Wie geht es uns, wenn wir kein Ikigai haben?

Wer zum ersten Mal nach Japan reist, wird von den Eindrücken schnell überwältigt. Besonders eindrücklich ist das Aufeinandertreffen traditioneller und moderner Kultur. Auf den Straßen Tokios begegnen uns betende Mönche und wir laufen an modernsten Displays vorbei, über die uns die neuste Werbung in Lautstärke einer Diskothek erreicht.

Interessant für IKIGAI Interessierte ist, dass einerseits “IKIGAI” ein allgemeines Wort der japanischen Sprache ist und zugleich nicht alle Japaner:innen behaupten würden, über ein IKIGAI-Gefühl zu verfügen.

Wenn IKIGAI so etwas wie die “japanische Philosophie des Sinnfindens” ist, muss man offen sagen:
Nicht jede:r Japaner:in ist daran interessiert, einen Lebenssinn zu finden.

IKIGAI-KAN

Um IKIGAI-kan zu verstehen, können wir uns die Wortherkunft vor Augen führen.

生き Iki entstammt dem Wort “Iki-ru” und bedeutet Leben, Alltag, Geburt.

がい Gai entstammt dem Wort “kai” und bedeutet Wert.

感 KAN bedeutet Gefühl; Empfindung; Emotion; Wahrnehmung.


IKIGAI-kan handelt von dem Gefühl, wenn wir im Moment spüren, dass das Leben lebenswert ist.
— Klaus Motoki Tonn

Eine Reflexionsfrage für dein IKIGAI

In welchen Momenten spürst Du, dass das Leben lebenswert ist?

 
 

IKIGAI-KAN ist ein Geisteszustand

IKIGAI-kan hat Mieko Kamiya als Geisteszustand beschrieben, den wir erleben, wenn unser IKIGAI in uns lebendig ist. Sie hat es mit dem Geisteszustand verglichen, den Viktor Frankl in der Logotherapie verwendet*. Damit schlug Mieko Kamiya eine Brücke von der IKIGAI-Psychologie zur Existenzanalyse.

Es gibt zwei Arten, das Wort ,Ikigai’ zu verwenden; es kann sich auf die Quelle oder das Objekt des Lebenswerts beziehen, wie in ,Dieses Kind ist mein Ikigai’, oder es kann sich auf den geistigen Zustand beziehen, wenn man Ikigai fühlt. Letzteres ist das, was Frankl das ,Gefühl des Sinns’ nennt. Ich werde es ,Ikigai-Kan’ nennen, um es von dem ersteren ,Ikigai’ selbst zu unterscheiden.
— Mieko Kamiya, Ikigai-ni-tsuite

WIE IST EIN LEBEN OHNE IKIGAI?

Japan ist nicht nur wegen der Vielfalt und Schönheit der Kultur beeindruckend.

In Japan sind die Folgen der starken Fokussierung auf die Arbeit als Zentrum des Lebens sichtbar:

  • Die Depressionsrate ist seit Jahren steigend.

  • Die soziale Isolation ist sehr verbreitet (Hikikomori)

  • In Japan existiert ein Wort für “Tod durch Arbeit” (Karoshi).

  • Es gibt eine eigene Forschung über das Phänomen des “einsamen Sterbens” in Japan (“Too lonely to die alone”. Studie)

Wir können annehmen, dass diese Phänomene mit einer Perspektivlosigkeit einhergehen. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Die Gründe darin liegen in der Frage der Erziehung, dem Selbstbild von Frau und Mann, dem Bild von Familie und der Beziehung zur Arbeit. Die jüngere Generation versucht damit zu brechen und schaut vermehrt nach “Sinn” und “Purpose” –  auch bedingt durch westliche Einflüsse***.


Finde Zukunft IKIGAI Baum

WIE SINNSUCHE UND IKIGAI UNS HELFEN Können

Wir haben heute hinreichend Studien, die bestätigen, dass IKIGAI das Wohlbefinden, das Selbstwertgefühl und die persönliche Autonomie fördert.

Wenn wir IKIGAI mit anderen Strömungen wie der Logotherapie (dritte Wiener Schule), mit der Resilienz Forschung (Emmy Werner und Kolleginnen) oder auch der positiven Psychologie, Flow und “Flourishing” Ansätzen vergleichen, sehen wir viele Übereinstimmungen.

  • In einer Studie mit Tai-Chi Anwenderinnen hat sich gezeigt, dass IKIGAI als IKIGAI Vermittler zwischen einer “Flow” Erfahrung und dem Kohärenzgefühl von Sinn, Verständlichkeit und Sinnhaftigkeit wirkt.

  • Meta-Studien haben gezeigt, dass IKIGAI die physische und geistige Gesundheit fördert.

Eine Reihe von Meta-Analysen und Langzeitstudien deuten auf einen schützenden Nutzen und eine positive Korrelation zwischen IKIGAI und einer besseren körperlichen Gesundheit hin. Dies deutet auf einen umgekehrten Zusammenhang auf die Frage der Langlebigkeit hin. Psychologisch gesehen kann Ikigai wichtig sein, um das Selbstverständnis, die Zielerreichung und die Problemlösungsfähigkeiten zu verbessern.
— Health Benefits of Ikigai: A Review of Literature
 

WIE IKIGAI UNSER WOHLBEFINDEN FÖRDERN KANN

IKIGAI ist so vielfältig, wie das Leben selbst. Wenn wir uns das vor Augen führen, können wir IKIGAI überall finden. Es gibt nichts, was zu groß oder zu klein ist, um für uns eine Quelle von IKIGAI sein zu können.

Für ein IKIGAI-Gefühl ist nichts weiter nötig, als unsere Aufmerksamkeit. Je mehr wir sie für diese Momente weiten, umso tiefer können wir ein “Sinn-Gefühl” erleben. Es geht also um ein “Gewahrsein” gegenüber IKIGAI-Momenten (“IKIGAI-Awareness”). Je mehr wir dies fördern und pflegen, umso stärker kann IKIGAI unsere mentale und physische Gesundheit stärken.

Als Prozess stellt sich dies wie folgt dar:

  • Bewusstsein für IKIGAI Quellen: Etwa durch eine Morgen-Meditation.

  • Gewahrsein für IKIGAI-KAN: Bewusstes Reflektieren über IKIGAI-Momente.

  • Fördern und Pflegen: Ganzheitliche, bewusste Integration der IKIGAI-Philosophie in unseren Alltag.

Die Grafik zu Ikigai und Wohlbefinden setzt sich aus den Komponenten Ikigai Quellen, Ikigai Pflege und Ikigai Kan Gefühl zusammen.

IKIGAI Wohlbefinden fördern

MIT IKIGAI BEWUSSTSEIN UNSER WOHLBEFINDEN UNTERSTÜTZEN

Nun sehen wir anschaulich, wie uns die IKIGAI Philosophie zu mehr Wohlbefinden verhelfen kann. Wir müssen keine aufwändigen Programme, Mitgliedschaften oder Urlaube planen, bezahlen und durchführen.

Wir können IKIGAI im Alltag allein durch die Kraft unserer Aufmerksamkeit erleben. Wir können dankbar für die vermeintlichen “kleinen Momente” werden und sie bewusster erleben.

Weitere Dinge, die du tun kannst:

  • Natur betrachten, Natur bewundern, Vögel oder andere Lebewesen bestaunen, Sterne und in dieser Zeit auch Sternschnuppen beobachten. Es gibt in Berkely eine ganze Forschung zu “Awe and Wonder”, die die Vorteile des Geisteszustandes erforscht, wenn wir in Bewunderung verfallen.

  • Beziehungen pflegen. Wahres Zuhören und Wertschätzung üben.

  • Dankbarkeit und Selbstlosigkeit praktizieren. Anderen etwas Gutes tun (“Engagement”), ohne dafür etwas zu erwarten. Dies können vermeintlich kleine Gesten sein, es müssen keine großen Taten oder wertvolle Geschenke sein. Es kann einfach Zeit und Aufmerksamkeit sein.

Wir hoffen, dieser Beitrag war hilfreich für dich. Weiter Beiträge über IKIGAI findest du in unserem Blog.


* „Iki” entstammt dem Verb „ikiru” und bedeutet Leben, „gai” steht für „Wert” oder „wertvoll”. 

Je nach Kontext haben die Worte unterschiedliche Bedeutungen:

„Iki“ steht für 

  • Leben

  • Geburt

  • Alltag

“Kai” steht für

  • Wert

  • Wertvoll

** Dieser weite Blick ist für Mieko Kamiya sehr typisch. Sie lebte selbst in Genf und studierte in Amerika. Ihr Horizont war dementsprechend weit.

*** Gegen Ende des 20. Jahrhunderts erhält das traditionelle Japanbild einen Gegenpol, der sich aus Symbolen technologischen Fortschritts (Kreuzung Shibuya), Schuluniformen, fleißigen Arbeitern und einer Jugendkultur Japans zusammensetzt. Heute lässt sich das visuelle Klischee Japans als hybrid beschreiben, zwischen dem alten und dem modernen Japan.

Formen der visuellen Begegnung zwischen Japan und dem Westen vom klassischen Japonismus zur zeitgenössischen Typographie. Dissertation von Mariko Takagi

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