Mieko Kamiya
Die Mutter des Ikigai

 
Mieko Kamiya
 
 
 

Mieko Kamiya – Eine wahre Heldin

Für uns ist Mieko Kamiya eine Heldin und auch in Japan war sie bekannt. Der Fernsehsender NHK widmete ihr eine eigene Serie. Es wurde sogar ein Animationsfilm über ihr Leben entwickelt.

Über Japan hinaus ist sie jedoch trotz ihrer bedeutenden Arbeit unbekannt geblieben. Dabei war sie es, die die Grundlagen der Ikigai Forschung und Ikigai Psychologie gelegt hat.

Ikigai ist heutzutage als Philosophie sehr in Mode gekommen. Durch eine Verwechslung mit einem Venn Diagramm des Spaniers Andrés Zuzunaga glauben viele, dass dies das japanische Ikigai sei. In Wahrheit ist das Ikigai jedoch viel komplexer und tiefgehender, als das verbreitete Venn Diagramm. Ken Mogi spricht von einem Spektrum – das Ikigai sei “so komplex wie das Leben selbst”.

 

Zitate von Mieko Kamiya

„Wenn wir aus dem Schlaf aufwachen, werden wir vom Morgen begrüßt. Wir haben den Morgen nicht erschaffen; er ist irgendwie gekommen, um uns die Chance zu geben, einen weiteren Tag zu leben. Wir wachen auf und entdecken den Morgen. Der Sinn des Lebens ist wie der Morgen”.

– Mieko Kamiya


Mieko Kamiya war inspiriert von der Arbeit von Viktor Frankl. Von Viktor Frankl können wir lesen:

„Jeder Tag, jede Stunde wartet also mit einem neuen Sinn auf, und auf jeden Menschen wartet ein anderer Sinn. So gibt es einen Sinn für einen jenen, und für einen jeden gibt es einen besonderen Sinn.“


Sie bezog sich in ihrem zentralen Werk “ikigai-ni-tsuite” unmittelbar auf Viktor Frankl:

“Es gibt zwei Möglichkeiten, das Wort „Ikigai" zu verwenden: Es kann sich auf die Quelle oder das Objekt des Lebenswerts beziehen, wie in „Dieses Kind ist mein Ikigai", oder es kann sich auf den geistigen Zustand des Gefühls des Ikigai beziehen. Letzteres ist das, was Frankl den „Sinn des Sinns" nennt. Ich werde ihn „Ikigai-Kan" nennen, um ihn von dem ersteren „Ikigai" selbst zu unterscheiden.”

– Mieko Kamiya

 

Was motivierte Mieko Kamiya?

Mieko Kamiya kümmerte sich um Leprakranke und forschte später als Psychologin über sie: Menschen, die von der Gesellschaft ausgeschlossen, gefangen gehalten und von ihren Familien entwurzelt wurden. Warum standen Menschen, die solches Leid erlitten, überhaupt noch jeden Morgen auf? Und was passiert, wenn einem der Sinn zum Leben geraubt wird? Sie formulierte die Bedeutung von Ikigai so:

„Es gibt für den Menschen nichts anderes, um das Leben voll zu leben, als Ikigai. Deshalb gibt es keine größere „Grausamkeit", als Menschen ihres Ikigai zu berauben, und es gibt keine größere Liebe, als den Menschen ihr Ikigai zu geben.”

– Mieko Kamiya in ihrem Buch “ikigai-ni-tsuite”, das bis heute nicht in andere Sprachen übersetzt wurde.

 

Über Mieko Kamiya

Mieko Kamiya forschte nicht nur über das Ikigai. Sie war Ärztin, Psychiaterin und Autorin. Sie begann bereits mit neun Jahren zu schreiben. Sie arbeitet als Übersetzerin am Kaiserhof und wurde später Mutter von zwei Kindern. Sie sprach und unterrichtete mehrere Fremdsprachen, darunter Französisch und Englisch. Sie übersetzte die Meditationen des Marcus Aurelius in die japanische Sprache.

 
 
Dieses Bild beschreibt auf einer Weltkarte die Lebensstationen der Ikigai Begründerin Mieko Kamiya. Mieko Kamiya hat mit ihrem Buch "Ikigai-ni-Tsuite" die Ikigai Forschung begründet. Sie schrieb darüber, wie man den Sinn des Lebens finden kann.

Stationen Mieko Kamiyas

 
 

Sie lehrte Psychiatrie an mehreren japanischen Universitäten und war die Privatlehrerin von Prinzessin Mishiko. Viele in ihrem Umfeld dachten, die Pflege von Leprakranken sei ihre „Berufung“, ihr Ikigai. Doch wenn wir ihren Tagebucheintrag lesen, können wir erkennen, dass sie ihr Ikigai in der Forschung und in dem Schreiben über das Ikigai selbst fand:

„Auf der Ausstellung und auf der Heimfahrt im Zug grübelte ich weiter darüber nach und wiederholte vor mir den Satz: “Widme den Rest deines Lebens ganz dieser Aufgabe!” Ich sollte meine Dissertation so schnell wie möglich zu Ende bringen, damit ich mit der Arbeit beginnen kann, meine Mission zu erfüllen.“

Sie war von dem Schreiben über das Ikigai so ergriffen, dass sie sich selbst – und auch ihre Kinder – immer wieder beruhigen musste. Im Januar 1960 begann sie zu schreiben und hielt in ihren Notizen fest:

„Nachts war ich wieder ins Schreiben über Ikigai vertieft. Weil die Ideen in mir nur so sprudelten, spielte ich eine Stunde lang ruhige Klavierstücke, teils um meine Kinder zum Einschlafen zu bringen, teils um mich zu beruhigen. Was für ein bewegendes Erlebnis ist es, dass ich all meine vergangenen Erfahrungen und mein Studium mit meinem Schreiben zu einem einheitlichen Ganzen vereinen kann.“

Als sie ihren ersten Entwurf von ihrem Buch am 7. September 1961 vollendete, schrieb sie: „Jetzt habe ich das Gefühl, in Frieden sterben zu können.“ Diese Worte zeigen, wie bedeutsam das Schreiben für Kamiya war. Es war ihr weitaus wichtiger als ihre Tätigkeit als Ärztin, obwohl sie dafür sehr bekannt war. Einige Tage später schrieb Kamiya in ihren Handnotizen (jap. „shuki“):

„Endlich ist der letzte Tag der Semesterferien. Als ich mich auf die kommenden Vorlesungen vorbereitete, schaute ich auf diesen Sommer zurück, in dem ich mich ganz meinem Buch widmete. Je mehr ich im Laufe des Sommers schrieb, desto deutlicher wurde mir, dass das meine wichtigste Aufgabe war. Ich könnte fast sagen, dass ich nur gelebt habe, um dieses Buch zu schreiben. […] Dass sich mir der Sinn meines Lebens eines Tages nach und nach so zeigen würde, hätte ich wirklich nie für möglich gehalten.”

 

Was wir von Mieko Kamiya über das Ikigai lernen können

Mieko Kamiya bringt uns durch ihre Tätigkeit als Psychotherapeutin und Forscherin das ursprüngliche Ikigai ganz persönlich und zugleich wissenschaftlich nahe. Wir können aus ihrer Biographie, ihrem Werk “ikigai-ni-tsuite”, aus ihren persönlichen Berichten, Selbstzweifeln und durch ihre reichen kulturellen und spirituellen Erfahrungen in den USA, in Europa und in Japan ein großes Bild von Ikigai erkennen.

Zugleich bleibt es eine Herausforderung, Ikigai in unsere westliche Welt zu übersetzen und die Ikigai Philosophie in unseren Kontext zu übertragen. Hierbei droht eine Komplexitätsreduzierung, die sich in dem Irrtum zum Venn-Diagramm von Andrés Zuzunaga vollendet.

Mieko Kamiya schrieb selbst zu der Herausforderung der Übersetzung von Ikigai:

"Es scheint, dass das Wort Ikigai nur in der japanischen Sprache existiert. Die Tatsache, dass es dieses Wort gibt, sollte darauf hinweisen, dass das Ziel zu leben, seine Bedeutung und sein Wert im täglichen Leben der japanischen Seele problematisiert worden sind. (...)

Laut Wörterbuch bedeutet Ikigai "Kraft, die man braucht, um in dieser Welt zu leben, Glück, am Leben zu sein, Nutzen, Wirksamkeit". Wenn wir versuchen, es ins Englische, Deutsche, Französische usw. zu übersetzen, scheint es keine andere Möglichkeit zu geben, es anders zu definieren als "lebenswert" oder "Wert oder Sinn des Lebens". Im Vergleich zu philosophischen, theoretischen Konzepten zeigt uns das Wort Ikigai also, wie vieldeutig die japanische Sprache ist, aber gerade deshalb hat es eine nachhallende Wirkung und einen großen Umfang."

 
  • Ja, Ikigai ist ein Wort, dass in der japanischen allgemeinen Literatur seit 1908 zu finden ist. Im Ursprung führt Ikigai auf "ikiru-kahi“ zurück und wurde in der Form wenigstens seit der Heian-Zeit (747 v. Chr. bis 1192) verwendet.

    Ikigai war im Mittelalter – in einer Zeit, in der Rollen noch durch soziale Konventionen festgelegt waren – ein soziales Konzept.

  • Mieko Kamiya hat viele Gebete, auch auf Deutsch, in ihr Tagebuch geschrieben. Sie und ihre Familie waren stark von freikirchlichen christlichen Gruppen umgeben, vor allem von Quäkern, die sich sehr sozial engagierten. Mieko Kamiya betete und besuchte die Pendle Hill Bibelschule. Dort war sie von den Gläubigen irritiert, begann aber eine tiefe Auseinandersetzung mit den biblischen Schriften. Da sie griechische Texte übersetzen konnte, las sie unter anderem das Neue Testament im Urtext.

    Auch ihr spirituelles Leben war von Zweifeln durchzogen. Persönlich schrieb sie in ihre Tagebücher:

    ”Ich glaube an Gott. Aber ich kann meinen Glauben auch kritisieren und an ihm zweifeln. Ich lerne sehr gerne. Ich weiß aber auch, wie begrenzt es ist. Ich studiere Geisteswissenschaft. Ich kann sie aber auch aus der Sicht der Naturwissenschaft kritisieren und ablehnen. Ich studiere Naturwissenschaft. Aber ich kann über ihre Begrenztheit vom Standpunkt der Geisteswissenschaft aus lachen. Ich bin von der Kunst berauscht.

    Aber ich kann mein berauschtes Herz auch für dumm halten. Was für ein Haufen von Widersprüchen bin ich doch!” – Eintrag aus den Tagebücher von Mieko Kamiya von 1944

  • Mieko Kamiya führte ein bewegtes Leben und starb jung im Alter von 65 Jahren. Sie wurde Mutter von zwei Kindern.

    Als junge Frau erlebte sie selbst einen großen Verlust, der in einer Lebenskrise mündete. Später hatte sie dennoch das Gefühl, dass sie im Schreiben alles Erlebte ausdrücken und ihre unterschiedlichen Erfahrungen zusammenbringen konnte. Vielleicht hielt sie deswegen über das Ikigai fest, dass es Jahre dauern kann, es zu finden.

    Mieko Kamiya rechnete ihr Leben lang nicht damit, noch einmal spätes Familienglück zu finden. Ihrer Biografie nach starb sie glücklich im Beisein ihres Ehemannes und ihrer Kinder.

  • Mieko Kamiya entwickelte aus ihren Studien sieben zentrale Dimensionen, die ein Ikigai stärken. In unserem Ikigai Kurs führen wir diese mit praktischen Fragen für den Alltag nach den Ikigai Säulen von Ken Mogi zu einem eigenen Ikigai-Modell zusammen:

    Lebenszufriedenheit
    Wachstum und Veränderung
    Gute Zukunft
    Resonanz
    Freiheit
    Selbstverwirklichung

    Bedeutung und Wert

  • “Ich muss schreiben”, schrieb Mieko Kamiya in deutscher Sprache in ihr Tagebuch (“shuki”, japanich), nachdem sie während einer Zugfahrt Thomas Mann’s Werke studiert hatte. Nach ihrer Arbeit als Übersetzerin (sie studierte zunächst Deutsch und Griechisch in Amerika), ihrem Medizinstudium und ihrer Arbeit mit Leprakranken und im Krankenhaus in Tokio fand sie ihre Berufung im Schreiben. Sie konnte ihr nicht sofort folgen, aber sie fand ihr persönliches Ikigai, indem sie über Ikigai schrieb. Es war ihre innere Überzeugung, dass sie dazu berufen war.

  • Mieko Kamiya hat sich intensiv mit europäischer Literatur beschäftigt. Sie konnte Werke von Michel Faucault und Thomas Mann in der Originalsprache lesen, da sie Französisch sprach und Deutsch studierte. Fachlich beschäftigte sie sich intensiv mit Hermann Hoffmanns Werk "Das Problem des Charakteraufbaus" (1926). Sie interessierte sich sehr für die psychologischen und genetischen Hintergründe von Charakterbildung und Motivation. In diesem Zusammenhang las sie auch Edward Sprangers Werk "Lebensformen: Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit" (1914), das sich mit der Frage nach den unterschiedlichen Motiven der Lebensmotivation beschäftigt. Spranger nennt darin sechs grundlegende Persönlichkeitstypen, die man heute mit der Charisma- und Persönlichkeitsforschung vergleichen könnte.

  • Mieko Kamiya hat nicht nur das Ikigai erforscht und darüber geschrieben. Sie hat auch ihre Autobiografie geschrieben, jedoch die Veröffentlichung nie erlebt, da sie jung verstarb. Sie arbeitete am Kaiserhof als Übersetzerin und übersetzte komplexe Werke aus dem Griechischen und Französischen, u. a.:

    Marcus Aurelius: Meditations (Τὰ εἰς ἑαυτόν).

    Gregory Zilboorg: A history of medical psychiatry.

    Michel Foucault: Naissance de la clinique maladie mentale et psychologie.

    Michel Foucault: Maladie mentale et personnalité.

    Virginia Woolf: Diaries of a writer.

    Khalil Gibran: The poems of Khalil Gibran.

  • Mieko Kamya war tief bewegt von den Erfahrungen, die sie bei der Behandlung mit Lepraerkrankten machte. Sie war beeindruckt von der Lebensfreude, obgleich diese Patienten getrennt von der Gesellschaft leben mussten und kaum Möglichkeiten zur Selbstentfaltung hatten. Sie beschrieb ihre Erfahrungen aus dem Nagashima Aiseien Sanatorium so:

    Ikigai fließt auf natürliche Weise von diesem Herzen in die Herzen anderer.

    Ich habe es zum Beispiel in den letzten 20 Jahren getan.

    Unter den Patienten, die ich gesehen habe, kenne ich einen jungen Mann, der an Lepra und Tuberkulose litt; auch wenn er kaum etwas tun oder sagen konnte, hatte er immer ein Lächeln im Gesicht.

    Wenn sie mich sehen, heben sie ihre Hände, als wollten sie sagen: „Hallo!“

    Ich kann nicht einmal mehr einen schlechten Job machen.

    Es ist das Lächeln dieses jungen Mannes, das mich ermutigt und mir das Gefühl gibt, lebenswert zu sein.

    Denn kleine Dinge sollten einen Sinn im Leben geben und sich jeden Tag gegenseitig unterstützen.§

 
 

Mehr über Mieko Kamiya in unserem kostenlosen Audiokurs:

 

Hier findest du Blogbeiträge zum Thema Ikigai:

 
 

Quellen und Literaturhinweise, Juni 2022:

  • Asano, K.; Fido, D.; Kotera, Y. (2019): English Translation and Validation of the Ikigai-9 in UK Sample. In: International Journal of Mental Health and Addiction, Ausgabe 18 (1).

  • Grant, A. (2021): There’s a Name for the Blah You’re Feeling. It’s Called Languishing, zuletzt geprüft: 27.05.2021.

  • Kemp, N. (2019): Ikigai explained by a Neuroscientist, zuletzt geprüft: 27.05.2021.

  • Kemp, N. (2020a): Ikigai According To Professor Akihiro Hasegawa, zuletzt geprüft: 17.03.2021.

  • Kemp, N. (2020b): How Andrés Zuzunaga Venn Diagramm Become Ikigai, zuletzt geprüft: 27.05.2021.

  • Kemp, N. (2020c): Mieko Kamiya – The Mother of Ikigai Psychology, zuletzt geprüft: 27.05.2021

  • Kemp, N. (2020d): Interview with Ken Mogi on the 5 Pillars of Ikigai, zuletzt geprüft: 27.05.2021.

  • Kono S. & Walker, G. J. (2020a): Theorizing Ikigai or Life Worth Living Among Japanese University Students: A Mixed-Methods Approach. In: Journal of Happiness Studies, Ausgabe 21 (1).

  • Kono S. & Walker, G. J. (2020b): Theorizing the interpersonal aspect of ikigai (‘life worth living’) among Japanese university students: A mixed-methods approach. In: International Journal of Wellbeing, Ausgabe 10 (2), S. 101-123.

  • Lukas, E. (2014): Lehrbuch der Logotherapie, Menschenbild und Methoden. 4. Auflage, München/Wien: Profil Verlag GmbH.

  • Matthews, Gordon, What Makes Life Worth Living? How Japanese and Americans Make Sense of Their Worlds, 1996.

  • Matthews, Gordon, The Pursuit of a Life Worth Living in Japan and the United States, Vol. 35, No. 1 (Winter, 1996), pp. 51-62 (12 pages), Published By: University of Pittsburgh of the Commonwealth System of Higher Education.

  • Miralles, F. & García, R. (2016): Ikigai – Gesund und glücklich hundert werden. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH / Allegria Verlag.

  • Mitsuhashi, Y. (2017): Ikigai. A Japanese concept to improve work and life, zuletzt geprüft: 27.05.2021.