NAIKAN – eine Methode der Selbsterkenntnis und der Versöhnung mit der eigenen Lebensgeschichte 

Ein Gastbeitrag Business- und Life-Coach Karl-Heinz Kragler

Als Coach und Therapeut erlebe ich immer wieder, dass meine Coachees / Klienten mit individuellen Lebenssituationen unzufrieden sind, dass Beziehungen aus unterschiedlichen Gründen emotionell belastet sind und teilweise unversöhnbar erscheinen. 

Häufig ergeben sich diese Erkenntnisse im Rahmen einer systemischen Strukturaufstellung und einer differenzierten Biographie-Analyse über alle Lebensbereiche. 

Psychisch belastende Erlebnisse, die oft lange zurückliegen sowie stressverstärkende Glaubenssätze (wie „Ich genüge nicht!“, „Ich muss mich immer extrem anstrengen!“ „Es allen rechtmachen!“) rauben Energie für eine selbstbestimmte und erfüllende Lebensgestaltung. 

In vielen Fällen zeigen sich depressive Grundhaltungen unterschiedlicher Belastungsgrade, ein gering ausgeprägtes Selbstwertgefühl und die ständige Auseinandersetzung mit dem eigenen inneren Kritiker. 

In meiner langjährigen Coaching-Tätigkeit haben sich, je nach den individuellen Bedürfnissen der Coachees, u.a. folgende Coaching-Impulse als hilfreich erwiesen: 

  • Impulse zur Stärkung von Selbstannahme, Selbstwert und Selbstmitgefühl 

  • ausgewählten NLP-Formate, wie z.B. Circles of Excellence, Change History, die Aktivierung des inneren Helfers 

  • Transformation von Glaubenssätzen in Verbindung mit Innerer Kind-Arbeit und Transaktionsanalyse 

  • die Anwendung von ausgewählten Kommunikationsformen (z.B. Gewaltfreie Kommunikation, die Kommunikations-Axiome von Watzlawick, 4-Ohren-Modell, bedürfnisgerechter Kommunikation) 

NAIKAN – eine Methode der Selbsterkenntnis und der Versöhnung 

Bei der Weiterentwicklung der „weiter als gestern“-Lebensphilosophie bin ich auf eine erstaunlich einfache Methode namens NAIKAN gestoßen, die im Wesentlichen auf einer methodischen Biographie-Analyse beruht und darauf abzielt, die bisherige Selbstsicht zu überprüfen und durch Einsicht und Neuorientierung dabei zu helfen, diese zu erweitern oder zu verändern. 

Der Begriff „Naikan“ entstand aus der Verbindung der Worte „Nai“ = „Inneres“ und „Kan“ = „Beobachten“ und bedeutet „innere Beobachtung“ im Sinne von Selbstreflexion. 

NAIKAN (jap. 内観)



„Innere Beobachtung”

Entstehen der Methode 

Die Naikan-Methode wurde von Yoshimoto Ishin (1916-1988) in Japan entwickelt und ermöglicht durch die Anwendung standardisierter Fragen das Erkennen unseres Verhaltens in Beziehungen zu anderen Menschen, den Einfluss prägender Lebensereignisse und Möglichkeiten zu einer erfüllenden Lebensgestaltung. 

Yoshimoto Ishin war gläubiger Buddhist und versuchte eine Praxismethode zu finden, die für alle Menschen machbar ist und bei der man eine differenzierte Sicht auf das bisherige Leben gewinnen kann, ohne den Körper durch strenge körperliche Entbehrungen zu belasten. 

Voraussetzungen für die Anwendung von NAIKAN 

Die NAIKAN-Methode kann und will keine Psychotherapie ersetzen. Sollten diesbezügliche Diagnosen vorliegen, ist sicherzustellen, dass der Anwender über ausreichende selbstregulatorischen Fähigkeiten verfügt. 

Vorgehensweise 

NAIKAN verbindet traditionelles Meditationswissen mit der modernen Erkenntnis, dass wir Produkt unserer eigenen Lebensgeschichte sind. 

NAIKAN besteht aus der strukturierten Betrachtung konkreter Erinnerungen an bestimmte Lebensabschnitte, wichtige Bezugspersonen und prägenden Lebensthemen auf der Basis von drei standardisierten Fragen: 

Frage 1: Was haben
wir bekommen? 

Wie reich sind wir von bestimmten Menschen in unterschiedlichen Lebensabschnitten (Phasen der Kindheit, in jüngerer Vergangenheit, gestern, heute) beschenkt worden?

Voraussetzung ist, dass wir das Erhaltene nicht damit vergleichen, was wir gerne erhalten hätten oder was hätte jemand für uns tun sollen. Was haben wir in allen Lebensbereichen, in unserer Vergangenheit tatsächlich erhalten, unabhängig von unseren Wünschen und Erwartungen. 

Erst auf der Basis auf Basis des tatsächlichen Geschehens und konkreter Erinnerungen können wir das Positive erkennen und wertschätzen. 

Frage 2: Was haben
wir gegeben? 

Was haben wir aus freien Stücken Menschen, Organisationen, in ausgewählten Situationen auf unserem Lebensweg (Phasen der Kindheit, in jüngerer Vergangenheit, gestern, heute) gegeben? 

Welche Ressourcen und Potenziale, welche Fähigkeiten haben wir dabei genutzt? 

Wie sieht meine Geben-Nehmen-Bilanz gegenüber von ausgewählten Personen aus? 

Frage 3: Welche Schwierigkeiten
habe ich bereitet? 

Von uns bereitete Schwierigkeiten sind vielfältig: subjektive Kritik, nicht gehaltene Versprechungen, egoistisches Verhalten, Unachtsamkeit, Unaufrichtigkeit, üble Nachrede, etc. 

Es ist durchaus normal, dass wir Menschen Schwierigkeiten, Umstände und Unannehmlichkeiten bereiten. Es gilt, die Wahrnehmung für unser Handeln zu schärfen, öfter wiederkehrende Verhaltensmuster zu erkenn und manche Handlungen zu unterlassen oder durch wiederholte Bewusstmachung aufzulösen. 

Falls wir trotz besten Bemühens anderen Menschen Schwierigkeiten bereiten, hilft die Anwendung von Selbstmitgefühl, unseren inneren Kritiker zu besänftigen und mit Achtsamkeit unsere zukünftigen Handlungen verträglicher zu gestalten. 

Es wird empfohlen, für die Beantwortung der dritten Frage etwa 60 % des gesamten Reflexionsprozesses aufzuwenden. 

Die 4. Frage vermeiden 

Die sog. „vierte Frage“: „Welche Schwierigkeiten hat uns jemand bereitet?“ wird bewusst zurückgestellt. 

Ziel von NAIKAN ist, dass wir Menschen selbstbewusst und verantwortungsvoll unser Leben gestalten. Aus diesem Grund wird der Schwerpunkt auf die positiven Aspekte des Menschseins gerichtet, wie z.B. individuelle Stärken, Optimismus, Verzeihen und Vergebung, Wertschätzung, Dankbarkeit, positive Beziehungen. 

Mit den Fragen 1 – 3 stehen o.g. Themen im Mittelpunkt. Aus dem Blickwinkel des Hier und Jetzt können wir mit Hilfe der NAIKAN direkten Einfluss auf unsere aktuelle Lebenszufriedenheit und eine positive und erfüllte Lebensgestaltung nehmen. 

Vergangene und belastende Lebenserfahrungen generell unbeachtet und – je nach Schwere – untherapiert zu belassen, halte ich grundsätzlich für bedenklich. Die Aufarbeitung derartiger Themen ist individuell zu klären und dann mit spezifischen psychotherapeutischen Methoden vorzunehmen. 

Konkrete Anwendung von NAIKAN 

Klassisches NAIKAN-Retreat 

Die klassische NAIKAN-Übung besteht aus einem bewussten, zeitlich begrenzten Rückzug aus dem Alltagsleben in Form eines 7-tägigen Retreats mit dem Ziel einer konzentrierten Selbstbetrachtung in Verbindung mit den 3 Naikan Fragen. 

Personen oder Themen werden in zeitlicher Reihenfolge vom Beginn der Beziehung bis zum heutigen Tag oder bis zum Ende der Beziehung betrachtet. Wurde eine Person oder ein Thema zu Ende betrachtet, wählt der/die TeilnehmerIn ein(e) weitere(s). 

Die Wahl der Personen oder Themen ist freigestellt, es wird allerdings empfohlen, anfangs die Basisbeziehungen (Mutter, Vater, Geschwister, Großeltern) anzusehen und erst später zu heutigen Beziehungen oder Themen überzugehen. 

Ein / eine NAIKAN-LeiterIn unterstützt diesen Prozess durch eine neutrale, respektvolle und nicht-wertende Begleitung. 

NAIKAN als Selbstcoaching-Methode 

NAIKAN eignet sich allerdings auch hervorragend als Selbstcoaching-Methode mit flexibel gestaltbarem Zeitaufwand. 

TAGES-NAIKAN 

Die Beantwortung der drei NAIKAN-Fragen erfordert eine gewisse Übungspraxis. Dazu empfiehlt sich das Üben in Form des sog. „Tages-NAIKAN“, in dem wir die Anwendung der drei NAIKAN-Fragen in das tägliche Leben integrieren. 

Am Ende eines Tages stellen wir uns die NAIKAN in Bezug auf eine bestimmte Person: 

1. Welche Fürsorge und Unterstützung habe ich heute von einer bestimmten Person erhalten („Nehmen“) 

2. Was habe ich heute einer bestimmten Person gegeben? („Geben“) 

3. Welche Probleme und Schwierigkeiten habe ich heute einer bestimmten Person bereitet? 

Wir erkennen durch die Beantwortung beiden ersten Fragen fast immer, dass wir am heutigen Tag viel mehr erhalten und profitiert haben als wir das bisher wahrgenommen haben und wieviel wir für andere getan, was wir heute in vielen Situationen geleistet haben. 

Durch die Beantwortung der dritten Frage erkennen wir durch uns zu verantwortende Schwierigkeiten und emotionale Belastungen, die meist durch unseren Mangel an Achtsamkeit und Empathie entstanden sind. 

NAIKAN in Bezug auf Schlüsselpersonen 

Wie bereits erwähnt, empfiehlt sich die Anwendung der NAIKAN-Fragen auf unsere Mutter und Vater, ggf. auf Geschwister und weitere Verwandte mit Unterteilung auf Lebensabschnitte von jeweils 3 – 5 Jahren seit unserer Kindheit. 

Die Erkenntnisse aus dieser Vorgehensweise hängen sehr stark von der Intensität der persönlichen Erinnerungen ab und erfordert m.E. einen erheblichen Zeitaufwand. 

In meiner Coaching-Praxis empfehle ich die Selbstreflexion mittels der NAIKAN-Fragen nur bei erkennbar problematischen Beziehungen zu Mutter, Vater und anderen Bezugspersonen mit Versöhnungsbedarf. Außerdem genügen m.E. die Betrachtung längerer Zeitabschnitte und die Fokussierung auf prägende Lebensereignisse. 

Entscheidend ist die dabei die bestmögliche Konzentration auf konkrete Sachverhalte ohne emotionale Interpretation und Bewertung. 

Erkenntnisse durch NAIKAN 

In den meisten Fällen gewinnen die Anwender nachstehende Erkenntnisse: 

✅ Wir haben in vielen Fällen deutlich mehr Unterstützung und Wertschätzung erhalten als wir bisher wahrgenommen haben. 

✅ Wir schulen unsere Fähigkeit zur Selbstbeobachtung. 

✅ Wir schaffen Klarheit in unseren Beziehungen, wir durchleuchten herausfordernde Situationen und schließen Frieden mit dem Gewesenen. 

✅ NAIKAN unterstützt die Aussöhnung mit wichtigen Personen unseres Lebens (z.B. Mutter, Vater, Kindern, ehemaligen Partnern), das Annehmen von Krankheiten, die Verarbeitung finanzieller Fehlschläge und problematischen beruflichen Ereignissen aus eigener Kraft. 

✅ Wir lernen, hinter Irrtümern, subjektiven Bewertungen und Interpretationen die Tatsachen zu entdecken. 

✅ Ersatz der Vorstellungen und Vorwürfe gegenüber anderen Menschen, die wir bisher aufgrund subjektiver Bewertungen als Hindernisse empfunden haben, durch Dankbarkeit 

✅ Erkennen der eigenen „Leistungsbilanz“ in Beziehungen 

✅ Wir erkennen, was uns alles an Liebe und Zuwendung in unserem Leben schon zugeflossen ist, vielleicht nicht auf die Art, wie wir es erwartet haben, sondern in der Weise, die dem anderen möglich war. 

✅ In einer persönlichen Krise (Beziehungsprobleme, Schwierigkeiten im Beruf, etc.) kann NAIKAN tief sitzende Ängste, Depressionen oder aggressives Verhalten bewusst machen und zur Auflösung beitragen. 

✅ NAIKAN fördert die Entwicklung von Klarheit, von Selbstannahme und die Möglichkeit durch eine vollständigere Selbsteinsicht, seine Verhaltensweisen zu ändern. 

✅ Regelmäßig geübt, verbessert NAIKAN die seelische Widerstandsfähigkeit / Resilienz. 

✅ Die Gedanken befassen sich deutlich mehr mit dem Hier und Jetzt. 


NAIKAN in der Partnerschaft 

Beim Coaching von Beziehungsproblemen kann die Arbeit mit den NAIKAN-Fragen einen wertvollen Beitrag leisten. 

In der gemeinsamen Lebensgestaltung ergeben sich vielfältige Reibungspunkte. Durch die Konzentration auf die Fakten (bestmöglich ohne emotionale Bewertung und Interpretation von Handlungen) und die Erkenntnis der gegenseitigen „Leistungsbilanz“ verbessern sich meistens die Kommunikationskultur, die Stärkung der gemeinsamen Beziehungsbasis und ein achtsameres Verhalten. 

NAIKAN im Berufsleben 

Bei Coachees stehen häufig negative und belastende Themen im beruflichen Umfeld im Vordergrund, wie z.B. Unzufriedenheit mit der beruflichen Entwicklung, Konflikte mit Vorgesetzten, die Kündigung, Mobbing und Burnout-Erfahrungen. 

Neben anderen Coaching-Formaten (s.o.) nutze ich auch die Beantwortung der NAIKAN-Fragen zur sachlichen und emotionalen Versachlichung. 

Was haben das Unternehmen, Vorgesetzte, die Mitarbeiter / Kollegen für mich getan?

1

Auch hier erkennen viele Coachees, dass sie meist mehr Leistungen und Wohlwollen erhalten haben, als bisher wahrgenommen. Dies sind u.a. finanzielle und emotionale Unterstützung, Weiterbildungsangebote, Urlaubs- oder Krankheitsvertretung, Übertragung von Verantwortung, konstruktive und wohlwollende Kritik 

Was habe ich für das Unternehmen, Vorgesetzte, die Mitarbeiter / Kollegen getan? 

2

Häufige Erkenntnisse sind bei dieser Frage: erfüllte Aufgaben / Ziele, gezeigte Einsatzbereitschaft, Motivation von Mitarbeitern, forcierte Weiterbildungen, geleistete Mehrarbeit, konstruktive Verbesserungsvorschläge, etc. 

Welche Schwierigkeiten habe dem Unternehmen, dem / den Vorgesetzten, den Mitarbeitern / Kollegen bereitet? 

3


Als Grundvoraussetzung für die zielführende Beantwortung dieser Frage ist eine möglichst sachliche, faktenbasierte, nicht von negativen Emotionen belastete Einstellung der Coachees. Dies ist bei einer kürzlich erhaltenen Kündigung, erlebten Mobbing-Prozessen, unangenehmen Personalgesprächen, etc. verständlicherweise emotional schwierig. 

Im Vordergrund des Einzel-Coachings stehen bei beruflichen Themen das Erkennen von fachlicher Kompetenzen und wesentlicher Persönlichkeitsmerkmale, die Stärkung von Selbstwert und Selbstwirksamkeit. Gleichwohl dient Coaching auch dem Erkennen möglicher Verhaltensverbesserungen und Verringerung von Kompetenzdefiziten. 

Als erkannte Schwierigkeiten werden u.a. fachliche Fehler, mangelndes Engagement, Verhaltensmängel, ungenügende Kommunikation und eingeschränkte Einsicht in notwendige Veränderungsprozesse genannt. 

Insofern liefert die Beantwortung der o.g. Frage wertvolle Beiträge zur Optimierung des eigenen Verhaltens und zur Reduzierung der kraftraubenden emotionalen Belastung. 

Fazit

Durch die achtsame Anwendung der NAIKAN-Methode verbessern sich die Wahrnehmung von Dankbarkeit und das Erleben von Lebensfreude und Zuversicht. Diese positiven Effekte von NAIKAN konnte ich in vielen Coaching-Projekten erleben. 

Auch für die eigene sinnstiftende und erfüllende Lebensgestaltung als Coach und Mensch hat NAIKAN bei mir einen wertvollen Beitrag geleistet.

Literaturempfehlungen

Sabine Kaspari: Naikan – Die Kraft der Versöhnung, 2012 Gräfe & Unzer Verlag, München 

Gregg Krech: Die Kraft der Dankbarkeit: Die spirituelle Praxis des Naikan im Alltag, 2003 Theseus Verlag 

Johanna Schuh: Naikan – Die Welt der Innenschau. Innere Ruhe finden und sich selbst entdecken, 2014 tao.de 

Gerald Steinke/Claudia Müller-Ebeling: Naikan – Versöhnung mit sich selbst. 2003 Kamphausen-Verlag 

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Ein Gespräch über Zukünfte mit Johannes Kleske - Teil 1

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