Ein Gespräch über Zukünfte mit Johannes Kleske - Teil 1
Zukunftsforscher und Gründer der Agentur Third Wave Johannes Kleske beschäftigt sich seit Jahren mit Zukünften aus einer kritischen Perspektive. Er selbst sagt, dass seine Grundmotivation die Erhöhung der Selbstbestimmungsfähigkeit der Menschen in einer zunehmend komplexen Welt sei.
In Hochzeiten der Pandemie sprach er mit Motoki über Zukünfte — und warum er bewusst von Zukunft im Plural spricht:
Wir denken doch, dass es die Vergangenheit ist, die uns in die Zukunft schiebt. Stattdessen ist es häufig die Zukunft bzw. unsere Vorstellung von ihr, die uns zu sich zieht.
Johannes, als wir uns das letzte Mal trafen, wolltest du Zukunftsforschung studieren. Wie kam es zu deinem Entschluss? Was ist draus geworden?
Das war 2017. Ich habe mich nebenberuflich an der Freien Universität Berlin für das Masterstudium Zukunftsforschung eingeschrieben. Im Prinzip tue ich seit zehneinhalb Jahren, seit es Third Wave gibt, nichts anderes als in die Zukunft schauen. Auf Trends. Auf Neuentwicklungen. Uns interessiert, wie sich Dinge verändern, welche indirekten und direkten Konsequenzen das hat, wie das die Gesellschaft, die Kommunikation verändert. Unser Wissen machen wir anderen zugänglich und beraten Unternehmen strategisch.
Wozu dann das Studium?
Naja, in Deutschland ist es häufig so, dass die Leute gerne einen Titel sehen wollen. Man bekommt zu hören: Ja, das ist ja ganz nett, was du da erzählst, aber mein Chef, braucht einen Nachweis, damit er das glaubt. Aber natürlich kann ein Titel nur ein netter Nebeneffekt sein. Es ging und geht mir um das theoretische Fundament und und Methodenvielfalt. – Also habe ich neben meinem Job als Geschäftsführer das Studium drangehängt. Vollzeitjob plus Vollzeitstudium, am Ende habe ich ein halbes Jahr länger als vorgesehen gebraucht.
Konntest du Theorie und Praxis vereinen?
Oh, ja! Es hat extrem gut funktioniert. Ich bin mit meiner Vorerfahrung ins Studium rein und habe vom ersten Tag an alles mitgenommen. Häufig habe ich gesagt: Super, das kann ich morgen gleich beim Kunden anwenden! In der Firma konnte ich mit Kunden etwas ausprobieren und mich an der Uni mit den Dozenten besprechen. Diese zweieinhalb Jahre haben mich auf ein ganz anderes Level gehoben.
Was hat sich für dich verändert?
Verändert hat sich, dass ich mich nun Zukunftsforscher nenne und das auch schriftlich habe. Im Ernst: Das Studium hat mich in meiner Arbeit bestätigt. Zukunftsforschung ist das, was ich tun will. Ich habe im Studium Zugang zu unterschiedlichen Denkschulen und Methoden erhalten. Das hilft in der Praxis ungemein.
Gibt es denn einen Markt für Zukunftsforschung, sind die Unternehmen offen dafür? Du hast das Beispiel genannt, wie skeptisch ein Chef sein kann und dass er erst mal Titel und Nachweise sehen will.
Doch, doch, das Thema Zukunft hat in den vergangenen drei, vier Jahren in der Gesellschaft massiv an Aufmerksamkeit gewonnen. Das kann jeder überprüfen, der einen Pandemie-Spaziergang macht, die Werbung während der „Sportschau“ wahrnimmt und sieht, wie dort mit dem Zukunfts-Begriff jongliert wird. Zukunft taucht in jedem zweiten Werbespot auf. Elektromobilität ist Zukunft! Klimaschutz ist die Zukunft! Die Zukunft ist grün! 5G ist die Zukunft!
Was aber ist Zukunftsforschung konkret?
Klassische Zukunftsforschung beschäftigt sich mit der Generierung von neuen Zukunftsbildern. Szenarien: In welche unterschiedlichen Richtungen kann das gehen? Mich interessiert auch die kritische Zukunftsforschung. Die konzentriert sich auf bestehende Szenarien und versucht zu analysieren und zu verstehen, welche Werte, welche Vorstellungen, welche Interessen liegen in diesen Zukunftsbildern? Was sagt uns das über die, die sie äußern? Was sagt uns das über die Gesellschaft, in der sie entstehen? Was können wir darüber, daraus lernen? Wie können wir das besser verstehen, was hinter Zukunftserwartungen liegt? Wie können wir dann tatsächlich alternative Zukünfte entwickeln?
Kannst du ein Beispiel nennen?
Wenn wir sagen, das Zukunftsbild des Silicon Valley sei geprägt von einem sehr kapitalistischen Denken: Wie könnte ein alternatives Zukunftsbild zum Silicon Valley aussehen, das nicht auf Kapitalismus basiert, sondern – um es überzogen zu formulieren – auf Sozialismus? Ich hab mich schon in meiner Masterarbeit mit dem Imaginärem beschäftigt: Welche kollektiven Erwartungen gibt es mit Blick auf die Zukunft? Erwartungen, die häufig unbewusst sind und die wir nicht reflektieren, die aber unser Denken und Handeln prägen. Bevor man neue Zukunftsbilder entwirft, hilft es zu überprüfen, welchen Einflüssen wir gerade ausgesetzt sind. Daraus lassen sich wirkungsvolle Alternativen bauen.
Tatsächlich, so scheint es mir, wird zurzeit vor allem viel von Zukunft geredet, aber kaum gehandelt. Erträgst du als Zukunftsforscher die vielen Statements in Talkshows, im Radio, in Podcasts?
Für mich ist das interessant zu sehen, wie zu Beginn von Corona all die Szenarien rausgehauen wurden. Jeder musste sich schnell positionieren: Wie geht's weiter? Das Problem war, dass alle versuchten, Hoffnung zu vermitteln. Das ging ja auch schief. Zukunftsforscher Matthias Horx etwa hat im April 2020 prognostiziert, dass im September 2021 alles wieder ganz toll sein würde.
Das war Wunschdenken.
Genau. Über die Zukunft hat das nichts ausgesagt. Aber eben ganz viel über die Person, die das gesagt hat.
Was löst das Wort Prognose bei Dir aus?
Prognose ist immer der Versuch eine spezifische Zukunft zu antizipieren, mit dem Denken, dass es nur eine Zukunft „im Jahr XY“ geben wird. Es ist der Versuch der Vorhersage.
Statt Vorhersagen („forecast”) braucht es Voraussicht („foresight”). Das heißt, nicht nur eine Prognose in Aussicht zu stellen, sondern mehrere Szenarien zu berücksichtigen. Zu schauen: Was sind die Treiber?
Das ist wichtig — aber auch anstrengend. Denken in Szenarien, statt in einer vereinfachten, linearen Zukunft. Denn Szenarien geben uns Alternativen: Handlungsspielräume, Gestaltungsspielräume. Dies bringt binäre Glaubensfragen mit sich: „Glaube ich ihnen oder nicht?”.
Dies kann dazu führen, dass sich Organisation nur auf eine angenommene Zukunft vorbereiten (eine lineare Strategie beruhend auf einer geglaubten Prognose), anstatt den Raum zuzulassen, sich auf mehrere Zukünfte vorzubereiten — und dafür Resilienzen aufzubauen. Diese Szenarien müssen sich nicht ausschließen, sondern können sich auch ergänzen und machen eine Bandbreite von Möglichkeiten auf.
Steht dahinter auch die Kernfrage: Willst Du eigentlich gestalten?
Ja, die Fragen, die wir stellen, sind häufig auch entsprechend „einfach” gestellt: Nur, wenn du dein Start-up so und so aufbaust, beispielsweise „AI powered”, kannst du erfolgreich sein.
Prognosen nehmen Handlungsfähigkeit. Motivation und Mission von Third Wave ist, Handlungsfähigkeit zu schaffen und organisationale Selbstwirksamkeit. Wir erweitern den Handlungsraum — statt sklavisch „Solutionism” (also einer einzigen bestmöglichen Lösung), „Nowism” und sofortige Bedürfnisbefriedigung („instant gratification”) zu folgen. Wir stärken unsere Ansprechpartner:innen wie Heads of Digitalisation, Organisationsentwickler:innen, die typischerweise alleine versuchen, in Organisationen Veränderung zu gestalten.
Hinterher ist man immer schlauer. Wie hätte eine haltbare Prognose aussehen können, wie könnte sie heute aussehen?
Der Fehler war, dass versucht wurde, die Zeit nach der Pandemie zu antizipieren. Was wir zum Beispiel letztes Jahr gebraucht hätten: Dass man unterschiedliche Szenarien neutral nebeneinander stellt:
Szenario 1: Die Pandemie geht relativ schnell vorbei.
Szenario 2: Naja, wir kriegen vielleicht in einem Jahr einen Impfstoff und dann könnte es so und so laufen.
Szenario 3: Wir kriegen die Pandemie überhaupt nicht in Griff. Sie wird uns über Jahrzehnte begleiten. Wir werden uns viele Jahre nicht mehr ohne Maske begegnen können.
Die Politik hat sich nicht getraut eine andere mögliche Wahrheit zu kommunizieren?
Man erstellt kein Szenario, um die Zukunft zu prognostizieren und hinterher zu überprüfen, ob es gestimmt hat. Szenarien dienen dazu, bessere Entscheidungen zu treffen. Das ist offensichtlich nicht passiert.
Zukunftsforschung ist also kein Blick in die Glaskugel. Der Zukunftsforscher steht mit beiden Beinen fest in der Gegenwart?
Zukunftsforschung ist wie gute Science-Fiction: Sie hat in der Grundprämisse nichts mit einer Zukunftsprognose zu tun, sondern ist Analyse und Kritik der Gegenwart. Deswegen ist Science-Fiction ja auch extrem vom Zeitgeist getrieben. Von einem Roman, der im Jahr 2500 spielt, kannst du viel über die Zeit lernen, zu der er geschrieben wurde.
Du sagst: Zukunftsforschung beschäftigt sich nicht mit zukünftigen Gegenwarten, sondern mit gegenwärtigen Zukünften. Alles, was wir machen, ist zu analysieren.
Dieses Verständnis von Zukunft ist in der Gesellschaft so gut wie nicht vorhanden. Verbreitet sind Zukunftssorgen, Zukunftsängste. Menschen fürchten Veränderung. Was sie nicht bedenken: Zukunft ist ein Gegenwarts-Objekt. Zukunft ist offen und gestaltbar.
Zukunft kann sich in ganz verschiedene Richtungen entwickeln. Ich spreche gerne ganz bewusst von Zukünften und werde dann gefragt: Moment, geht das denn grammatikalisch überhaupt: Zukünfte? Dann sage ich: Schau in den Duden, der Duden sagt: Ja, das geht!
Aber das weiß offenbar niemand.
Kaum jemand weiß das, kaum jemand sagt Zukünfte. Was viel darüber aussagt, wie wenig über Zukunft nachgedacht wird. Es gibt die Zukunft und wer sie am besten prognostizieren kann, hat gewonnen – Falsch! Es gibt ganz viele unterschiedliche Vorstellungen von Zukunft in unseren Köpfen. Schon in den Fünfzigern hat der Zukunftsforscher und Soziologen Fred Polak gesagt, dass Zukunftserwartungen uns am stärksten beeinflussen. Das war revolutionär. Wir denken doch, dass es die Vergangenheit ist, die uns in die Zukunft schiebt. Stattdessen ist es häufig die Zukunft bzw. unsere Vorstellung von ihr, die uns zu sich zieht.