Ikigai aus Sicht von Mieko Kamiya und Viktor E. Frankl

 
 

Die japanische Psychologin Mieko Kamiya gilt als Mutter der Ikigai-Psychologie, die sich als erste Forschende intensiv mit Ikigai beschäftigte. Universitäten sowie Professoren aus aller Welt schätzen ihre praxisbezogenen Studien und weisen auf ihre gewonnenen Erkenntnisse hin. So leistet ihr Werk ‘‘Ikigai Ni Tsuite“ (‘der Sinn des Lebens’) einen wertvollen Beitrag zur heutigen Humanistischen Psychologie.

 

Ikigai – Eine japanische Lebensphilosophie

Der Ursprung des Begriffs Ikigai stammt aus der Heian-Periode von 794 - 1185, einer Epoche der japanischen Geschichte, in der Frieden herrschte. Das Wort Ikigai bedeutet „Lebenswert“, wobei „iki“ für Leben und „gai“ für Wert steht. Obwohl sich im Laufe der Geschichte die Interpretation dieser Lebensphilosophie stetig veränderte, blieb die Quintessenz des Ikigai, welcher sich auf den Sinn des Lebens bezieht, erhalten. Selbstverwirklichung und das Streben nach seelischer Zufriedenheit sind tief in der Japanischen Kultur verankert. Dies mag auch der Grund sein, warum sich die ältesten Menschen der Welt in Japan befinden.

Ikigai in der westlichen Welt

In unserem digitalen Zeitalter verbringen wir viel Zeit vor dem Computer und mehr und mehr mit Smartphone (s. ARD/ZDF Onlinestudie). Dabei wächst die innere Sehnsucht, nach dem „Hier und Jetzt“ - heraus aus der virtuellen Welt und zurück ins eigene „Ich“. Fragen wie: “Was macht mein Leben lebenswert?“ „Warum soll ich jeden Tag aufstehen?“ - stellen sich viele Menschen besonders in problematischen Zeiten.

Ikigai die lebensbejahende Philosophie aus Japan findet in unserer Überflussgesellschaft großen Anklang. Menschen, die auf der Suche nach Antworten im Bezug auf Lebensfragen sind, finden inzwischen viele „Ratgeber“, die mit unterschiedlichsten Sichtweisen Ikigai-Modelle erstellen.

Westliche Sichtweisen bestehender Ikigai-Modelle

Bei vielen Modellen wird auf ein Venn-Diagramm verwiesen, welches vier Fragen aufzeigt, die beantwortet werden müssen, um sein eigenes Ikigai zu erkennen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass diese Methodik nicht unbedingt falsch sein muss, sie entspricht lediglich nicht der japanischen Sicht von Ikigai.

 
 
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Mieko Kamiya und Ikigai

Mit Mieko Kamiya und ihren Forschungen können wir die wirklichen Wurzeln des Ikigai entdecken. Ein Großteil ihrer gewonnenen Erkenntnisse stammten aus den 70er Jahren, in der Zeit als sie noch aktiv Patient:innen in der Heilanstalt Nagashima Asien behandelte. Dort beschäftigte sie sich über Jahre investigativ mit Menschen, welche die Verbindung zu ihrem Lebenssinn verloren und von ihrer ursprünglichen Gesellschaft abgeschnitten wurden.

Ikigai als individuelles Konzept

Mieko Kamiya charakterisierte Ikigai als ein für jeden Menschen völlig individuelles Konzept. Dieses kann sich sowohl in Form von Erfahrungen, Rollen, Erinnerungen aber auch in einem bestimmten Mitmenschen zeigen, welcher unserem Leben einen Sinn verleiht. Folglich ist Ikigai ein Bewusstseinszustand, durch welchen wir unseren Lebenssinn fühlen, wenn wir diesem bestimmten Ikigai-Konzept folgen.

  • Ikigai-Quelle: Erfahrungen, Aufgaben, Mitmenschen usw.

  • Ikigai-kan: ist der Zustand der Lebensfreude, die wir fühlen in Verbindung mit der Quelle unseres Ikigai, wenn wir es aktiv leben.

Zukunftsorientierung – Selbstwahrnehmung - Werte

Mieko Kamiya verdeutlichte, dass Ikigai zwar im ‘Hier und Jetzt‘ gelebt werden muss, eng verstrickt mit dem Schema der Resilienz, wobei sich das bessere Leben auf die Zukunft bezieht. Unser Fühlen, Denken und Handeln in der Gegenwart verhilft uns zu einer besseren Zukunft, selbst in der Krise.

Beispiel: Ein Mensch befindet sich in einer ausweglosen Situation und anstatt zu resignieren, ist er voller Hoffnung und verspürt das Verlangen einer positiven Veränderung im „Hier und Jetzt“. Das Ziel dies zu erreichen und die Auswirkungen dessen, zeigen sich erst in der Zukunft. Aber sobald dieses Ziel, also das Objekt des persönlichen Ikigai aktiv verfolgt wird, verspürt dieser Mensch Ikigai-Kan.

Dabei gilt es zu unterscheiden, dass diese bessere Zukunft sich mehr auf unser psychisches und geistiges Wohlbefinden bezieht, als auf Wohlstand oder ähnliche oberflächliche Werte.

Viktor Frankl

Kamiya lies sich in ihren Thesen von westlichen Anschauungen der Psychologie inspirieren. Mehrfach zitierte sie in ihrem Werk Viktor Frankl. Wir können sowohl in den Erkenntnissen als auch im Leben der beiden viele Parallelen entdecken.

Beide sahen sich mit schwierigen Situationen und Verlusten konfrontiert. Beide rangen mit sich selbst und suchten nach einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Leidens. Beide erlitten schwere Verluste.

Frankl überlebte vier Konzentrationslager. Er verlor seine Eltern, seinen Bruder, seine Frau - alles, was ihm wichtig war. Doch durch die Zeit des Leidens trug ihn Trost und Hoffnung, die er im Vorgriff auf die Zukunft empfand. Er beobachtete, dass am ehesten diejenigen fähig sind, solche Grenzsituationen zu überleben, die sich an der Zukunft ausrichten und das Gefühl haben, dass dort etwas auf sie wartet. Dazu zitierte er wiederum Nietzsche: “Wer ein Warum {oder wozu} zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie”.

Er formulierte, dass der Lebenssinn eines jeden Menschen individuell ist. Unsere Bedürfnisse, Leidenschaften und existentiellen Ziele liegen in uns. Weder Bücher, noch Mitmenschen oder Institutionen können uns diese aufzeigen oder gar vorschreiben, denn “Sinn will unabhängig und selbstständig entdeckt und gefunden werden”.

Frankl ist Gründervater der Existenzialanalyse. Laut Viktor Frankl haben wir jeden Tag und in jedem noch so kurzen Augenblick die Möglichkeit, selbst Entscheidungen zu treffen die unser Leben in die Richtungen lenken, die unserem persönlichen Sinn entsprechen. Dabei ist unsere Einstellung und unsere seelische Widerstandskraft (Resilienz) wichtig. Das bedeutet, sich selbst nicht als Marionette des Schicksals zu sehen, sondern in Würde zu handeln und den eigenen Weg gehen.

 

“Denken wir darüber nach und lassen wir uns mit Mut und Entschlossenheit an unserer persönlichen Freiheit arbeiten”

- VIKTOR FRANKL


 

Sieben Ikigai Dimensionen

Mieko Kamiya hat in ihrer Arbeit 7 Bedürfnisse charakterisiert, die je nach Persönlichkeit des Einzelnen ganz oder teilweise erfüllt sein müssen, um den Bewusstseinsstand von Ikigai-Kan zu erreichen. Diese von ihr erarbeiteten Punkte basieren auf langjährigen Forschungen und praktischen Studien. Die Erkenntnisse ähneln denen von Viktor Frankl, aber auch der Maslowschen Bedürfnishierarchie von Abraham Maslow. Erst später kam die Positive Psychologie mit vergleichbaren Elementen auf, Mieko Kamiya entwickelte diese 7 Ikigai-Dimensionen bereits in den 60er Jahren in Japan.

Bedeutung & Wert
Um Bedeutung und Wert zu finden, gibt es keine bessere Möglichkeit als auf die eigene Stimme, auf unsere Erfahrungen und Prägungen zu schauen und sich in Ruhe mit sich selbst auseinanderzusetzen. Dazu haben wir in unserem Ikigai-Buch viele Hinweise und Übungen.

Freiheit
Freiheit im Kontext von Ikigai bedeutet, den eigenen inneren Bedürfnissen folgen zu können und die Möglichkeit zu haben, diese auszuleben. Es geht darum, sich von äußeren Einschränkungen zu befreien und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Veränderung und Wachstum.
Wachstum als Bedürfnis gehört zu jedem Organismus und zu jedem Bauwerk. Alle Pflanzen, Tiere, Menschen und sogar Organisationen wollen wachsen, um sich weiterzuentwickeln. Wachstum bedeutet Veränderung. Wir Menschen wachsen an jeder noch so kleinen Erfahrung, an Erfolgen ebenso wie an Niederlagen, an neu gewonnenen zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso wie an Trennungen.

Selbstverwirklichung
Im Mittelpunkt dieser Dimension steht die Erkenntnis und Verwirklichung des eigenen „Selbst“. Es geht darum, in sich hineinzuhorchen, die eigenen Gedanken und Gefühle zu erkennen und die eigene Einzigartigkeit zu entdecken. Selbstverwirklichung umfasst Selbsterkenntnis und Selbstentfaltung und bedeutet, aus dem eigenen inneren Selbst heraus zu leben. Ein wesentlicher Aspekt ist das selbstwirksame Handeln, das eng mit dem Konzept der Selbstwirksamkeit verbunden ist. Dies beinhaltet das Streben, das eigene Potenzial voll auszuschöpfen und aktiv zu gestalten, was zu einem tieferen Gefühl der Erfüllung und Zufriedenheit führt.

Lebenszufriedenheit
Zufriedenheit wird durch die Wertschätzung dessen erreicht, was man hat, und nicht durch das Verlangen nach dem, was man nicht hat. Diese Dimension umfasst das Leben im Moment und die Entwicklung einer Haltung der Dankbarkeit. Lebenszufriedenheit ist dabei ein zentrales Bedürfnis, das grundlegend für ein erfülltes Leben ist. Sie ermöglicht es uns, die Gegenwart zu schätzen und eine tiefere Verbundenheit mit unserem täglichen Dasein zu erfahren.

 
 
Es gibt für Menschen nichts anderes, um das Leben in vollen Zügen zu leben, als ikigai. Deshalb gibt es keine größere Grausamkeit, als den Menschen ihr ikigai zu nehmen. Und es gibt keine größere Liebe, als den Menschen ihr ikigai zu geben.
— Mieko Kamiya
 
 

Resonanz
Der Begriff Resonanz stammt aus der Physik und wurde von der modernen Soziologie adaptiert. Aus sozialer Sicht sind damit unsere Beziehungen zu unseren Mitmenschen gemeint. Wir sollten diese Kontakte pflegen, um durch jede Interaktion geistig und seelisch zu wachsen. Dabei ist es wichtig, durch einen freundlichen und respektvollen Umgang mit unseren Mitmenschen zu einem harmonischen Zusammenleben beizutragen. So entsteht ein fruchtbarer Boden für Wachstum auf allen menschlichen Ebenen.

Gute Zukunft
Wir dürfen unsere Prioritäten, Wünsche und Bedürfnisse nicht aus den Augen verlieren. Das Bild einer besseren Zukunft, wie wir sie uns wünschen, kann am besten vor unserem inneren Auge entstehen. Wenn wir eine gute Beziehung zu unseren Mitmenschen haben, wenn wir die Dinge entspannt angehen und den Tag im Sinne der Resilienz leben, haben wir eine gute Zukunft.


Mieko Kamiya und Viktor Frankl – Ikigai und Logotherapie

Mieko Kamiya bezieht sich in ihrer Definition des “Ikigai-Gefühls” explizit auf Viktor E. Frankl und seine Logotherapie.

Es gibt zwei Möglichkeiten, das Wort „Ikigai” zu verwenden: Es kann sich auf die Quelle oder das Objekt des Lebenswerts beziehen, wie in „Dieses Kind ist mein Ikigai”, oder es kann sich auf den geistigen Zustand des Gefühls des Ikigai beziehen. Letzteres ist das, was Frankl den „Sinn des Sinns” nennt. Ich werde ihn „Ikigai-Kan” nennen, um ihn von dem ersteren „Ikigai” selbst zu unterscheiden.
— Mieko Kamiya

Fast zur gleichen Zeit, als Mieko Kamiya, die unter anderem in Genf lebte und ihre ersten Ideen zur Ikigai-Psychologie entwickelte, brachte der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl die Logotherapie in die Welt. Diese von ihm begründete Form der Existenzanalyse, die auf der Suche nach dem Sinn des Lebens beruht, wurde von Schülerinnen wie Elisabeth Lukas weiterentwickelt und verbreitet. Frankls persönliche Erfahrungen als Überlebender des Holocaust haben seine Überzeugungen tief geprägt. Er vertrat die Auffassung, dass Menschen auch unter den schrecklichsten Umständen einen Sinn im Leben finden können. Dieser Kerngedanke der Logotherapie ist eng mit dem Konzept des Ikigai verbunden, da beide die Bedeutung von Sinn und Werten im Leben betonen.

Freiheit und Verantwortung von Viktor Frankl

Frankl betonte die einzigartige Entscheidungsfähigkeit des Menschen. Steven Covey fasste dies so zusammen: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegt unser Wachstum und unsere Freiheit.“ Dieses Verständnis von Freiheit ist nicht einfach die Freiheit von äußeren Umständen, sondern die Freiheit zu wählen, wie man auf diese Umstände reagiert. Er glaubte, dass wahre Freiheit durch die Übernahme von Verantwortung für unsere Antworten auf die Herausforderungen des Lebens entsteht.

Werte und Sinnverwirklichung

Viktor Frankl identifizierte drei Hauptkategorien von Werten, die uns helfen, Sinn zu finden und unser Ikigai zu verwirklichen:

  1. Schöpferische Werte: Diese entstehen durch das, was wir erschaffen oder leisten. Sie umfassen berufliche Errungenschaften, künstlerische Ausdrucksformen und alles, was eine Person beiträgt.

  2. Erlebniswerte: Diese werden durch das erfahren, was uns die Welt und die Beziehungen zu anderen bieten. Liebe ist das markanteste Beispiel für Erlebniswerte.

  3. Einstellungswerte: Diese repräsentieren unsere Fähigkeit, würdevoll auf unvermeidliche Leiden zu reagieren. Frankl behauptete: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Dies unterstreicht, dass das Finden von Sinn selbst in schwierigen Zeiten zutiefst ermächtigend und befreiend sein kann.

Entscheidungsmodulation

Viktor Frankls Idee der Entscheidungsmodulation betont, dass wir immer die Kontrolle über unsere innersten Entscheidungen haben, unabhängig von äußeren Umständen. Diese Freiheit zu wählen, wie wir auf das Leben reagieren, ist grundlegend für seine Theorie und zeigt sich in seiner Auffassung, dass wir dem Leben antworten, statt nur Antworten vom Leben zu erhalten.

Frankl präsentiert zwei mögliche Lebenseinstellungen: Entweder wir nehmen an, dass wir die äußeren Umstände nicht beeinflussen können, oder wir sehen in diesen Umständen die Möglichkeit zum persönlichen Wachstum und zur Sinnfindung. Mieko Kamiya und Viktor Frankl haben beide durch ihre Fähigkeit, in ihren Schicksalen Sinn zu finden, tiefgreifende Lebenskrisen überwunden.

Durch das Annehmen von Verantwortung für unsere Einstellungen und Entscheidungen können wir unser persönliches Ikigai finden und ein sinnerfülltes Leben führen. Dies unterstreicht die tiefe Verbindung zwischen Ikigai und den Lehren Frankls, die beide darauf abzielen, trotz Widrigkeiten ein erfülltes und zielgerichtetes Leben zu führen.

 
 
 
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Wie die Erfinderin des Ikigai zu ihrem persönlichen Ikigai fand

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