Wie die Erfinderin des Ikigai zu ihrem persönlichen Ikigai fand

Mieko Kamiya gilt als die Erfinderin der Ikigai-Psychologie. Was sie in ihren wissenschaftlichen Arbeiten über das Ikigai herausfand, erfährst Du hier. Welche Parallelen es zu anderen Sichtweisen aus der Psychologie gibt, kannst du in diesem Blogbeitrag herausfinden. Miekos spannender Weg, auf dem sie über Ikigai schrieb und forschte, führte sie schließlich zu ihrem ganz persönlichen, eigenen Ikigai - ihrer Lebensaufgabe:

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“Auf der Ausstellung und auf der Heimfahrt im Zug grübelte ich weiter darüber nach und wiederholte vor mir den Satz: ‘Widme den Rest deines Lebens ganz dieser Aufgabe!’ Ich sollte meine Dissertation so schnell wie möglich zu Ende bringen, damit ich mit der Arbeit beginnen kann, meine Mission zu erfüllen”

Für Mieko bedeutete, sich auszudrücken, das zu schreiben, was ihr einzigartiges Leben und Denken widerspiegelte. Es war gegen Ende des Jahres 1959, als ihr die Idee kam, das Buch zu schreiben, das schließlich zu Ikigai Ni Tsuite (‘Der Sinn des Lebens’) wurde. Ein Tagebucheintrag von Januar 1960 zeigt, dass sie bereits mit dem Schreiben begonnen hatte: 

“Nachts war ich wieder ins Schreiben über Ikigai vertieft. Weil die Ideen in mir nur so sprudelten, spielte ich eine Stunde lang ruhige Klavierstücke, teils um meine Kinder zum Einschlafen zu bringen, teils um mich zu beruhigen. Was für ein bewegendes Erlebnis ist es, dass ich all meine vergangenen Erfahrungen und mein Studium mit meinem Schreiben zu einem einheitlichen Ganzen vereinen kann”

Mieko beendete ihren ersten Entwurf am 7. September 1961 und hielt in ihr Tagebuch fest: “Ich habe das Gefühl, jetzt in Frieden sterben zu können”. Diese Worte zeigen, wie enorm bedeutsam das Schreiben von Ikigai Ni Tsuite für Mieko war. Es war ihr weitaus wichtiger als ihre Tätigkeit als Ärztin, obwohl sie in erster Linie dafür und für ihre Behandlung von Leprapatient:innen bekannt ist. Einige Tage später schrieb Mieko in ihr Tagebuch:

“Endlich ist der letzte Tag der Semesterferien. Als ich mich auf die kommenden Vorlesungen vorbereitete, schaute ich auf diesen Sommer zurück, in dem ich mich ganz meinem Buch widmete. Je mehr ich im Laufe des Sommers schrieb, desto deutlicher wurde mir, dass das meine wichtigste Aufgabe war. Ich könnte fast sagen, dass ich nur gelebt habe, um dieses Buch zu schreiben. Was für eine Überraschung, Freude und Ehrfurcht ich empfand, als ich das nach und nach entdeckte. Dass sich mir der Sinn meines Lebens eines Tages nach und nach so zeigen würde, hätte ich wirklich nie für möglich gehalten”

Kurz nachdem Mieko mit der Arbeit an dem Buch begonnen hatte, verbesserten sich ihre Lebensumstände wesentlich. Im Jahr 1960 wurde sie Professorin in der Fachrichtung Soziologie am Kobe College (Kōbe Jogakuin Daigaku) in Nishinomiya, Japan. Seit 1951 arbeitete sie am College, meist als Teilzeit-Dozentin für die Fremdsprachen Englisch und Französisch. Aber in ihren Augen war das Unterrichten nur ein Mittel, um Geld zu verdienen, und sie sehnte sich danach, davon frei zu sein. Die neue Stelle im Fachbereich Soziologie ermöglichte ihr nun, in ihren Kursen Themen zu behandeln, die mit Psychiatrie zusammenhingen, wie z.B. Psychohygiene, Sozialpsychiatrie und kultursensible Psychiatrie. So kamen zum ersten Mal ihr Beruf und ihr eigenes Interesse zusammen. In der Vorbereitung auf ihre Kurse konnte sie sich mit Themen beschäftigen, die sie wirklich interessierten, und die sie in ihre Schreibtätigkeit einfließen lassen konnte.

übersetzt aus: Ota, Yuzo (2006): A Woman with Demons. A Life of Kamiya Mieko (1914-1979), S. 212f.


IKIGAI als Prozess

Zehn Jahre vor Fertigstellung ihres Buches „ikigai-ni-tsuite“ hielt sie die Idee fest, über dieses Thema zu schreiben. IKIGAI war eines von vielen Themen ihrer „Bucketlist“, über die sie schreiben wollte, solange sie lebte.  Dass sie darin eine solche Erfüllung finden würde, offenbarte sich ihr erst im Schreibprozess.

Ihr Prozess zeigt: Ikigai entsteht mit der Zeit. Kamiya probierte vieles, war eine Frau mit verschiedenen Rollen. Sie lernte unterschiedliche Berufe und bekam viele Eindrücke vom Leben, bevor sie den deutlichen Ruf hörte: “Widme den Rest deines Lebens ganz dieser Aufgabe!”.

Sie folgte dieser Stimme. Diesen Schritt zu gehen kostete sie Energie, Zeit und schlaflose Nächte. Ihr Ikigai fiel nicht plötzlich vom Himmel. Es war ein intensiver Prozess. Erst, als sie sich einen Sommer lang mit dem Schreiben ihres Buches beschäftigte, war sie in der Lage, das Gefühl zu benennen, das diese Tätigkeit ihr gab. Ihr Ikigai ist mit ihr und ihrem Tun gewachsen. Dafür musste sie ihm Raum geben. 

Ob wir unserem Ikigai Raum und Zeit geben, entscheidet darüber, ob wir Sinn in unserem Leben empfinden. Dann kann ein Gefühl von IKIGAI wachsen und uns kontinuierlich durch Höhen und Tiefen begleiten – ähnlich wie der Glaube an eine höhere Macht und einen höheren Sinn im Leben.

Ikigai-kan. Wie sich Sinn anfühlt.

Ein Blick auf Kamiyas Gefühlswelt beschreibt, wie der Zustand von IKIGAI-kan (das Gefühl, das in einer Person aufkommt, wenn sie mit ihrem IKIGAI in Verbindung ist) sich anfühlt: Sie war von der Tätigkeit des Schreibens so gefesselt, dass sie bis spät in der Nacht daran arbeitete. Vermutlich erlebte sie, was wir heute ein Flow Erlebnis nennen würden - zutiefst von dieser Tätigkeit ergriffen.

Es bedeutete ihr so viel, dass all ihre Überzeugung in ihre Schriftstücke flossen. Daher beschrieb sie es als Lebensaufgabe. Ihre teils schmerzlichen Lebenserfahrung und Gelerntes verbanden sich, sodass ein roter Faden entstand. Ihre sonstigen Aufgaben - die der Forscherin, Sprachdozentin, Mutter, waren für sie nichts außergewöhnliches - jede:r hätte sie genau so wie sie erledigen können. Das Schreiben allerdings bedeutete ihr persönlich sehr viel. Sie sagte darüber:

Niemand hat eine Persönlichkeitsstruktur wie meine, hat Erfahrungen wie ich gemacht, und niemand hat gefühlt und gedacht, was ich fühlte und dachte. Dem Ausdruck zu verleihen durch das Schreiben kann niemand anderes tun, als ich

Die Antwort auf die Frage, wofür sie lebte, hatte sie mit ihrem Schreiben gefunden. Das Gefühl entstand dabei schon im Prozess. Sie war so erfüllt von ihrem fertiggestellten Werk, dass sie sagte: “Jetzt kann ich ohne Reue sterben”.

Daran schloss sich ein Meilenstein für ihre Karriere und vor allem ihr Wohlbefinden: Sie bekam eine Stelle angeboten, in die sie ihr Herz legen konnte. Sie konnte diese Arbeit gestalten, ihr eine persönliche Note verleihen. Sie hatte nicht länger das Gefühl, sich zweiteilen zu müssen. Nun konnte sie ihrem Ikigai auch in ihrer Professur nachgehen und ihre Leidenschaft weitergeben.

In diesem Abschnitt von Kamiyas Geschichte können wir nachvollziehen, wie sie einem erfüllenden Leben mit kleinen Schritten näher kam. Auch wenn sie ihre äußeren Umstände nur wenig beeinflussen konnte, investierte sie ihre Energie in die Dinge, die sie ändern konnte. Das Schreiben war so sinnstiftend und richtunggebend, dass sie daraus Kraft ziehen konnte. Es waren kleine Dinge, die einen großen Effekt auf ihr IKIGAI hatten. 


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Ikigai aus Sicht von Mieko Kamiya und Viktor E. Frankl