Was Tränen uns mitteilen wollen
Vom Salz zum Gold: Tränen sind mehr als ein Symptom – sie sind ein biopsychosozialer Ausdruck
Vielleicht erinnerst du dich an eine Träne, die dich überrascht hat.
Nicht in einem Moment großer Trauer, sondern beim Lachen, bei Musik oder in einem Gespräch, das dich unvermittelt berührt hat.
Vielleicht kennst du auch die Momente, in denen du aus einem großen Verlust geweint hast – bitterlich, weil dir bewusst war: Etwas Wertvolles wird in Zukunft nicht mehr da sein.
Manchmal wissen wir gar nicht genau, ob wir vor Freude oder Schmerz weinen – wir spüren nur:
Etwas in uns antwortet.
Weinen ist ein zutiefst menschlicher Akt – und zugleich ein komplexer neurophysiologischer Vorgang.
Die Forschung unterscheidet zwischen:
Basalen Tränen (zur Befeuchtung der Hornhaut)
Reflextränen (z. B. durch Reizstoffe wie Zwiebeln)
Emotionalen Tränen – jene, die uns als Ausdruck von Trauer, Überwältigung, Erleichterung oder Dankbarkeit begleiten
Und hättest du es gewusst?
Weinen ist ein Regulationsprozess – neuroimmunologisch, psychologisch, sozial.
Gerade emotionale Tränen sind neurochemisch und funktional von besonderer Bedeutung.
Körpereigene Opioide: Sie enthalten unter anderem Leu-Enkephalin, ein natürliches Opioid, das schmerzlindernd wirkt und emotionale wie körperliche Belastungen mildern kann.
(Frey, 1985; Gracely et al., 1983)Stressabbau: Emotionales Weinen fördert die Ausscheidung von Stresshormonen wie Cortisol, ACTH und Prolaktin – ein physiologischer Mechanismus, der Anspannung reduziert und emotionale Entlastung ermöglicht.
(Frey, 1985; Gračanin et al., 2014)Parasympathische Beruhigung: Der Akt des Weinens stimuliert den Vagusnerv, was das parasympathische Nervensystem aktiviert. Dadurch werden Herzfrequenz und Blutdruck gesenkt, die Atmung vertieft und der Körper in einen Zustand von Ruhe und Regeneration versetzt.
(Zaman et al., 2014; Porges, 2007)Soziale Bindung: Tränen senden ein nonverbales Signal der Verletzlichkeit, das Empathie und Fürsorge bei anderen auslöst. Sie stärken zwischenmenschliche Nähe und können Aggression in Fürsorge verwandeln.
(Vingerhoets, 2013; Provine et al., 2009)Evolutionäre Funktion: Aus evolutionsbiologischer Sicht dient Weinen nicht nur der inneren Regulation, sondern auch der sozialen Kommunikation – als sichtbarer Ausdruck, der Hilfe anfordert, Bindung vertieft und Gemeinschaft stärkt.
(Hasson, 2009; Nelson, 2005)
Jede Träne ist ein individuelles Muster – sichtbar durch Kunst und Mikroskopie
Zwei künstlerisch-wissenschaftliche Projekte haben die Einzigartigkeit von Tränen sichtbar gemacht:
Rose-Lynn Fisher – „The Topography of Tears“
Die US-amerikanische Fotografin sammelte über 200 Tränenproben – von sich selbst, Freunden, Fremden.
Mit Hilfe eines Lichtmikroskops dokumentierte sie die kristallinen Strukturen getrockneter Tränen.
Ergebnisse: verzweigte, netzartige, wellenförmige oder klare Formen – keine Träne glich der anderen.
„Die Strukturen erinnerten mich an Landschaften, an Luftaufnahmen. Fast so, als hätte jedes Gefühl seinen eigenen geographischen Ort.“
Maurice Mikkers – „Imaginarium of Tears“
Maurice Mikkers wuchs in den Niederlanden auf und begann seine Laufbahn als Chemiker in einem medizinischen Labor. Stundenlang arbeitete er mit Pipetten, Reagenzien und Mikroskopen – präzise, methodisch, konzentriert. Später studierte er Design an der Königlichen Kunstakademie in Den Haag und begann, Wissenschaft mit visueller Erzählkunst zu verbinden.
Die Idee zu seinem Projekt Imaginarium of Tears entstand zufällig. An einem Arbeitstag stieß er sich den Zeh, eine kleine Träne trat in sein Auge. Er fing sie auf – und betrachtete sie unter dem Mikroskop. Was er sah, erstaunte ihn: ein kristallines Muster, filigran verzweigt, wie eine Luftaufnahme von Flussdeltas oder Wüstenlandschaften.
Aus dieser Entdeckung wuchs ein weltumspannendes Projekt. Mikkers begann, Tränen von Menschen in aller Welt zu sammeln – von Freude, Trauer, Erleichterung oder Schmerz. Unter dem Dunkelfeldmikroskop offenbarten sie Formen, die nie zweimal gleich waren: fragile Netze, wellenförmige Strukturen, klare Linien. Für ihn wurden Tränen zu einer universellen Sprache, die ohne Worte auskommt:
„Wir sollten unsere Tränen teilen“, sagt er. „Denn Tränen sind Geschichten. Und Geschichten verbinden uns auf einer tieferen Ebene.“
„Wir sollten unsere Tränen teilen. Denn Tränen sind Geschichten. Und Geschichten verbinden uns auf einer tieferen Ebene.“
Um diese Verbindung greifbar zu machen, entwickelte er ein Tränensammel-Set, mit dem Menschen ihre eigenen Tränen einschicken können. So wird ein Moment des Lebens sichtbar festgehalten – nicht nur als Erinnerung, sondern als einzigartiges Bild, wie ein Fingerabdruck des Gefühls.
Maurice Mikkers Fotoprojekt war Teil der Online Ausstellung "Wasser – Ursprung, Element, Ressource, Leben"(Zingst,2021)
Seine Arbeit wurde international bekannt, nicht nur in der Kunstwelt, sondern auch in der Wissenschaftskommunikation. Für viele, die ihre Tränen in seine Kamera gaben, wurde es zu einem Akt der Würdigung: eine Einladung, das, was uns bewegt, nicht zu verbergen, sondern sichtbar zu machen.
Kintsugi: Wenn Geschichten in goldenen Linien weiterfließen
Auch in der japanischen Kunst des Kintsugi bleibt der Bruch sichtbar.
Ein zerbrochenes Gefäß wird nicht unsichtbar geklebt, sondern mit Urushi-Lack und Goldstaub verbunden – die Reparatur wird Teil der Geschichte.
In der Begleitung von Menschen und in unseren Kintsugi-Kursen greifen wir diese Metapher bewusst auf.
In den letzten Jahren haben wir bei Finde Zukunft die Kintsugi-Metapher sorgfältig entwickelt und wiederholt geprüft.
Dabei wurden zentrale psychodynamische und traumasensible Elemente integriert, u. a.:
Narrative Exposure Therapy (NET) – um belastende Lebensgeschichten achtsam zu rekonstruieren
EMDR – zur bilateralen Stimulation und Stabilisierung
Teilearbeit (IFS) – um mit verletzten, schützenden und integrierenden Anteilen zu arbeiten
Achtsamkeit, Atemregulation, Imaginationsübungen (z. B. „Sicherer Ort“, „Tresor“, „Ressourcenfigur“)
Kintsugi steht hier nicht für eine Methode, sondern für eine Haltung: Der Bruch gehört zur Geschichte.
Und Heilung zeigt sich nicht im Auslöschen, sondern in der Würdigung und Verwandlung.
Tränen – Goldlinien des Inneren
Die Verbindung zwischen Tränen und Kintsugi liegt nicht nur im Symbolischen.
Beides sind sichtbare Spuren eines inneren Prozesses, der nicht beliebig, sondern einzigartig ist.
Jede Träne, die auf die Wange fällt, trägt eine Geschichte.
Jede goldene Linie auf einem reparierten Gefäß zeigt: Etwas war zerbrochen. Und es ist nicht mehr wie zuvor – aber es ist nicht weniger wertvoll.
„Es gibt keine größere Qual, als eine unerzählte Geschichte in sich zu tragen.“
Impuls für deine Praxis
Hier sind einige Reflexionsfragen, die dir helfen können, in schwierigen Momenten vom „Warum?“ zum „Wozu?“ zu gelangen – ganz im Sinne der Logotherapie und der Ikigai-Psychologie (Werte und Sinn im Leben zu entdecken):
Wann habe ich das letzte Mal geweint – und was war mir in diesem Moment so bedeutsam, dass es Tränen ausgelöst hat?
Welche Werte oder Beziehungen berührt diese Träne?
Gibt es Tränen der Freude in meinem Leben, und wozu laden sie mich ein?
Welche Tränen der Trauer haben mir geholfen, etwas Neues zu verstehen?
Gibt es Tränen, die ich lange zurückgehalten habe – und wozu könnte es gut sein, sie jetzt zuzulassen?
Was sagen mir meine Tränen über das, was mir wirklich am Herzen liegt?
Könnte ich die Spur einer Träne als Goldlinie betrachten – nicht als Makel, sondern als Ausdruck einer gelebten Geschichte?
Weiterführende Literatur & Quellen
Vingerhoets, A.J.J.M. (2013): Why Only Humans Weep: Unravelling the Mysteries of Tears
Fisher, R.-L. (2017): The Topography of Tears. Bellevue Literary Press
Mikkers, M. (2015 ff.): Imaginarium of Tears
Zaman et al. (2014): Vagal nerve modulation through emotional expression, Front. Psychol.
van der Kolk, B. (2015): The Body Keeps the Score