Offenes Gewahrsein im Alltag – mit geführter Audio-Übung

Wenn du meditierst, verbringst du wahrscheinlich viel Zeit damit, dich zu konzentrieren – oft auf den Atem.

Dabei versuchen wir, Ablenkungen zu vermeiden, die nur zu mehr Gedanken führen. Viele haben das Gefühl, dass sie die Übung nicht richtig machen, wenn sie andere Gedanken haben. Dann ist es vielleicht gut, eine andere Übung auszuprobieren - sozusagen einen Gegenpol zur konzentrierten Aufmerksamkeit.

Eine solche Übung ist die Praxis des offenen Gewahrseins, bei der wir in unserer offenen Wahrnehmung ruhen und uns erlauben, Gedanken und Emotionen wahrzunehmen, ohne von ihnen vereinnahmt zu werden. Viele Teilnehmende an unseren Seminaren berichten, dass sie die Übung des offenen Gewahrseins besser praktizieren können als die Übung der fokussierten Achtsamkeit.

Die Kraft des offenen Gewahrseins

Für viele Menschen ist es zunächst ungewohnt, sich des eigenen Bewusstseins bewusst zu sein. Es kann verwirrend oder schwer fassbar sein. Doch wenn wir uns dieser Praxis ohne Vergleiche oder Erwartungen nähern, können wir eine tiefe Ruhe und Klarheit erfahren. Manche beschreiben dieses Gefühl als "so weit wie der Himmel" oder "so tief wie der Ozean". Es ist ein Zustand völliger Ruhe, Freude und Verbundenheit mit der Welt um uns herum.

Aus dieser Übung heraus können wir eine ganzheitliche Haltung für unser Leben entwickeln: Im Alltag bedeutet offenes Gewahrsein, Situationen mit Offenheit zu begegnen, unsere gewohnten Reaktionen und Muster loszulassen und keine bestimmten Erwartungen an die Zukunft zu haben.


Offenes Gewahrsein praktisch werden lassen

In unseren Search Inside Yourself Seminaren gibt Motoki immer wieder Beispiele, wie wir offenes Gewahrsein in unser Leben integrieren können:

  • Den Sternenhimmel offen beobachten – und feststellen, dass immer mehr Sterne sichtbar werden.

  • Im Bahnhof einen durchfahrenden Zug offen beobachten – und nicht auf einen bestimmten Waggon schauen.

  • Die Wellenbewegungen auf dem Meer sehen – und nicht jeder einzelnen Welle folgen.

Was in unserem Gehirn geschieht

Daniel Goleman und der Neurowissenschaftler Richard Davidson haben herausgefunden, dass bei langjährigen Achtsamkeitspraktizierenden während der Meditation der offenen Aufmerksamkeit erhöhte Gammawellen im gesamten Gehirn auftreten, die mit einem Gefühl von Weite und Raum einhergehen.

Erstaunlich war, dass die Meditierenden auf olympischem Niveau, das sind Menschen, die bis zu 62.000 Lebensstunden meditiert haben, als dauerhaftes Merkmal immer sehr starke Gamma-Wellen aufweisen, egal, was sie gerade tun. Es handelt sich nicht um einen Zustandseffekt, nicht nur während der Meditation, sondern einfach in ihrem täglichen Geisteszustand. Wir haben eigentlich keine Ahnung, was das erfahrungsgemäß bedeutet. Die Wissenschaft hat das noch nie gesehen.

Wir haben auch festgestellt, dass bei diesen Meditierenden auf olympischem Niveau die Gammawerte innerhalb weniger Sekunden um 700 bis 800 Prozent ansteigen, wenn wir sie zum Beispiel bitten, eine Meditation über Mitgefühl durchzuführen. Das hatte die Wissenschaft noch nie gesehen.
— Daniel Goleman

Weitere Forscher wie Judson Brewer ("Unwinding Anxiety") fanden ähnliche Muster bei verschiedenen meditativen Praktiken, die als "müheloses Gewahrsein" bezeichnet werden - ein Zustand, in dem man einfach alles wahrnimmt, was auftaucht.

Es braucht etwas Zeit und Vertrauen, bis wir uns auf das “offenen Gewahrsein” einlassen können, doch dann entsteht ein wunderbarer Raum, in dem wir die Zeit nahezu vergessen. Dieser Zustand fördert inner Ruhe und unterstützt sogar unsere Kreativität.
— Motoki Tonn

Filter, die uns einschränken

Oft sehen wir die Welt durch Filter, die unsere Wahrnehmungen formen und uns in schmerzhaften Mustern gefangen halten können. Das Gehirn ist eine "Vorhersagemaschine", die Wahrnehmungsfilter auf der Grundlage vergangener Erfahrungen konstruiert (“The Predicting Brain”, Dr. Regina Pally). Diese Filter helfen uns, schnell zu reagieren, können aber auch dazu führen, dass wir das Leben durch vorgefertigte Vorstellungen erleben und die Frische des Augenblicks verlieren.

Durch die Kultivierung eines offenen Bewusstseins können wir diese Filter lockern und neue, bereichernde Erfahrungen machen. Humor und das Loslassen von Erwartungen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle, um offen zu bleiben und neue neuronale Verbindungen zu fördern.

Metaphern für offenes Gewahrsein

Offene Bewusstseinsübungen können wir mit der Metapher der vorbeiziehenden Wolken durchführen. Das Zitat von Thich Nhat Hanh gibt uns ein Bild dafür: "Eine Wolke stirbt nie. Sie kann sich in Regen oder Schnee verwandeln oder aus unserem Blickfeld verschwinden - so wie Gedanken und Gefühle kommen und gehen. Ihre Natur ist vergänglich - wir können sie im Hier und Jetzt wahrnehmen, ohne uns von ihr mitreißen zu lassen.

Eine Wolke stirbt nie

Wenn die Wolke nicht mehr am Himmel zu sehen ist, bedeutet das nicht, dass die Wolke gestorben ist.

Die Wolke wird in anderen Formen wie Regen, Schnee oder Eis fortgesetzt.

So kannst du deine Wolke in ihren neuen Formen erkennen.

Wenn du eine schöne Wolke sehr magst und deine Wolke nicht mehr da ist, solltest du nicht traurig sein.

Deine geliebte Wolke ist vielleicht zum Regen geworden und ruft dir zu: "Liebling, Liebling, siehst du mich nicht in meiner neuen Form?

Und dann wirst du nicht in Trauer und Verzweiflung versinken.

Dein geliebter Mensch geht immer weiter.

Eine Wolke stirbt nie.

– Thich Nhat Hanh

Ein weiteres Anwendungsfeld findet sich in der ACT ("Acceptance and Commitment Therapy"). In der ACT-Praxis gibt es Übungen, in denen wir uns vorstellen, eine Parade mit unbeschrifteten Plakaten zu beobachten, die an uns vorbeizieht. Wir können diese Plakate mit Gedanken und Gefühlen beschriften und sie dann vorbeiziehen lassen.


Offenes Gewahrsein als geführte Meditationsübung und Audiodatei

Eine kleine Übung für offenes Gewahrsein

Hier ist eine einfache Anleitung, die du jederzeit ausprobieren kannst, um offenes Gewahrsein zu erfahren:

  1. Setze dich bequem hin: Finde eine bequeme Sitzposition, in der du aufrecht, aber entspannt sitzt. Schließe sanft die Augen.

  2. Beobachte deinen Atem: Atme tief ein und aus, ohne den Atem zu kontrollieren. Spüre einfach, wie sich der Atem in deinem Körper bewegt. Schau, ob Du einen Ort findest, an dem Du Deinen Atem am lebendigsten spürst. Das kann der Luftstrom sein, den du beim Atmen an deiner Nase spürst, die Brust, die sich hebt und senkt, oder der Bauch, in den du atmest. Hier gibt es kein “richtig” oder “falsch” – schau, was für Dich am besten funktioniert.

  3. Erweitere deine Aufmerksamkeit: Lass deine Aufmerksamkeit sich ausdehnen. Nimm alle Geräusche, Gerüche und Empfindungen um dich herum wahr, ohne sie zu bewerten oder dich auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren. Wenn Dir das zu viel wird, kannst Du einfach zu Deinem Atem zurückkehren.

  4. Das Bewusstsein des Bewusstseins kultivieren: Richte Deine Aufmerksamkeit darauf, einfach nur gewahr zu sein. Sei Dir des Bewusstseins selbst bewusst, ohne auf Gedanken, Geräusche oder Empfindungen zu achten. Es kann Dir helfen, zu Dir selbst zu sagen: “Ich muss nichts tun, ich muss nirgendwohin gehen – ich darf einfach im Hier und Jetzt sein”.

  5. Im Moment verweilen: Bleibe ein paar Minuten in diesem Zustand des offenen Gewahrseins. Wenn Gedanken oder Gefühle auftauchen, nimm sie wahr, aber lass sie wie Wolken am Himmel vorbeiziehen, ohne an ihnen festzuhalten.

  6. Rückkehr: Bringe deine Aufmerksamkeit langsam zurück zu deinem Atem. Spüre wieder die Bewegung des Atems in Deinem Körper.

  7. Abschließen: Öffne sanft Deine Augen, bewege langsam Deine Finger und Zehen und nimm den Raum um Dich herum wieder bewusst wahr. Nimm Dir einen Moment Zeit, um das Gefühl der Ruhe und Achtsamkeit mit in Deinen Tag zu nehmen.

 

Nachweise:

  1. Goleman, Davidson. Altered Traits: Science Reveals How Meditation Changes Your Mind, Brain, and Body. Reprint Edition. New York, New York: Avery; 2018

  2. Judson Brewer, Unwinding Anxiety, Talks at Google

  3. Antoine Lutz, Lawrence L. Greischar, Nancy Rawlings, Long-term meditators self-induce high-amplitude gamma synchrony during mental practice. https://doi.org/10.1073/pnas.0407401101

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