Empathie, Mitgefühl und Ikigai: Der Weg zu einem prosozialen Leben

Über Empathie

Empathie ist eine grundlegende menschliche Fähigkeit, die es uns ermöglicht, die Gefühle anderer zu verstehen und zu teilen. Der Begriff "Empathie" stammt aus dem Deutschen. Er wurde 1848 von dem deutschen Philosophen Rudolf Lotze als Übersetzung des griechischen Wortes empatheia "Leidenschaft, Gefühlszustand" geprägt. Im Gegensatz zur Sympathie bedeutet Empathie, sich tatsächlich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen und sein Leiden mitzufühlen. Diese Fähigkeit ist zentral für unser soziales Miteinander und hilft uns, tiefe Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen.

Die Schattenseiten der Empathie

Empathie kann unsere Wahrnehmung verzerren und uns unter Zeitdruck beeinflussen. Forschungen von C. Daniel Batson haben gezeigt, dass hohe Empathie nicht immer zu altruistischem Verhalten führt, sondern oft zu erhöhtem Stresslevel beim Beobachter, was schließlich zum Rückzug führen kann (Batson et al., 1981). Eine weitere Gefahr ist die Voreingenommenheit: Wir neigen dazu, mehr Empathie für Menschen zu empfinden, die uns ähnlich sind, was als "in-group bias" bekannt ist und in sozialen und beruflichen Kontexten problematisch sein kann (Eagleman, 2012). Empathie kann zudem manipuliert werden und zu moralischer Erschöpfung führen, wie Fritz Breithaupt in "Die dunklen Seiten der Empathie" darlegt, wobei er aufzeigt, wie Empathie zu politischer Manipulation und emotionaler Erschöpfung führen kann.

Menschen zeigen mehr Empathie gegenüber Personen, die als fair wahrgenommen werden, und weniger gegenüber solchen, die als unfair oder zur Out-Group gehörend betrachtet werden (Eagleman, 2012). Der Neurowissenschaftler David Eagleman hat gezeigt, wie unsere Empathie durch wahrgenommene Fairness und Gruppenzugehörigkeit beeinflusst werden kann. Menschen zeigen mehr Empathie gegenüber Personen, die als fair wahrgenommen werden, und weniger gegenüber solchen, die als unfair oder zur Out-Group gehörend betrachtet werden (Eagleman, 2012).

Mitgefühl als Ausweg

Mitgefühl (vom Lateinischen "com-passio" - "mit-leiden") geht über die reine Empathie hinaus. Es beinhaltet nicht nur das Verständnis und Teilen der Gefühle anderer, sondern auch den aktiven Wunsch, deren Leid zu lindern.

Die Trainierbarkeit von Mitgefühl: Erkenntnisse aus der Forschung

Tania Singer und Olga Klimecki haben in ihren Studien gezeigt, dass Mitgefühl trainierbar ist. Trainings zu Mitgefühl steigern nicht nur das Wohlbefinden der Trainierenden, sondern können auch unser prosoziales Verhalten fördern. Sie fanden heraus, dass Mitgefühl das Gehirn auf eine Weise verändert, die es den Menschen ermöglicht, effektiver und nachhaltiger auf das Leid anderer zu reagieren. Diese Trainings fördern spezifische neuronale Netzwerke, die mit prosozialem Verhalten und emotionaler Regulation verbunden sind.

Der Grund dafür liegt in der Neuroplastizität des Gehirns – der Fähigkeit des Gehirns, sich strukturell und funktionell an neue Erfahrungen und Lernprozesse anzupassen. Durch regelmäßige Praxis und Achtsamkeitstechniken kann Mitgefühl nicht nur gesteigert, sondern auch zu einem festen Bestandteil unseres Verhaltensrepertoires werden. Neuroplastizität ermöglicht es, dass neue neuronale Verbindungen gebildet und bestehende gestärkt werden, wodurch das Gehirn flexibler und anpassungsfähiger wird (Singer & Klimecki, 2014).

Paul Gilbert beschreibt Mitgefühl als „eine mutige und weise Motivation, sich dem Leiden zuzuwenden und zu versuchen, es zu lindern“ (Gilbert, 2023). Im Gegensatz zu Empathie, die zu Stress und Rückzug führen kann, befähigt uns Mitgefühl, aktiv zu handeln und positive Veränderungen zu bewirken. Gilbert erläutert in seinem Buch “The Compassionate Mind”, dass Mitgefühl nicht nur eine emotionale Reaktion, sondern eine bewusste und weise Entscheidung ist, die auf der Wahrnehmung und dem Verständnis von Leid basiert und den Wunsch beinhaltet, dieses Leid zu lindern (Gilbert, 2009).

Effektiver Altruismus: Rationales Helfen

Effektiver Altruismus ist ein Ansatz, der darauf abzielt, durch rationale und evidenzbasierte Entscheidungen den größtmöglichen positiven Einfluss zu erzielen. Anstatt rein emotional zu handeln, basiert effektiver Altruismus auf Daten und wissenschaftlichen Analysen. Tools wie die Effective Altruism Funds ermöglichen es uns, unsere Ressourcen gezielt und sinnvoll einzusetzen, um das Leid in der Welt zu lindern. Diese Plattformen bieten evidenzbasierte Empfehlungen, wie Sie Ihre Spenden und Ihre Zeit am besten einsetzen können.

Ikigai und die Förderung von Mitgefühl

Ikigai, ein japanisches Konzept, das oft mit „Grund des Seins“ oder „Wofür es sich zu leben lohnt“ übersetzt wird, kann eine starke Grundlage für ein mitfühlendes und altruistisches Leben bieten. Mieko Kamiya beschreibt Ikigai in sieben Dimensionen, die zu einem erfüllten und sinnvollen Leben beitragen (Kamiya, 1966). Mieko Kamiya war nicht nur eine bedeutende Forscherin, sondern auch eine engagierte Ärztin, die sich aufopferungsvoll um Leprakranke kümmerte. Dabei entwickelte sie ein tiefes Mitgefühl, wie ihre Tagebücher und ihre Biographie "A Woman with Demons" eindrucksvoll belegen.

 
 

Mieko Kamiya berichtet in ihren Notizen, die wir übersetzt haben, von einem älteren Patienten, dessen Mitgefühl und Freundlichkeit die oft trübe und schwere Atmosphäre auf der ganzen Station veränderte. Er war ein Fischer, der wegen seiner schweren Lepra ans Bett gefesselt war. Das Pflegepersonal erlaubte ihm, von seinem Bett aus aus dem Fenster zu schauen, wofür er sehr dankbar war. Immer wieder zeigte er den Pflegenden seine tiefe Dankbarkeit, was diese sichtlich berührte und veränderte. Die wertvollen Notizen in den Tagebücher von Mieko Kamiya lassen erkennen, wie sehr ihre Arbeit an Ikigai von Mitgefühl geprägt war.

Mieko Kamiya, Pionierin der Ikigai-Forschung.

Ikigai und Übungen zu Mitgefühl – 7 Dimensionen nach Mieko Kamiya

Wir können die sieben Dimensionen, die Mieko Kamiya für ein starkes Ikigai-Gefühl beschrieben hat, als Ausgangspunkt für Mitgefühlsübungen nehmen. Durch die moderne Forschungen von Tania Singer und Kollegen im Bereich der sozialen Neurowissenschaften wissen wir, dass eine regelmäßige Praxis nachhaltige Veränderungen ermöglichen können:

Lebenszufriedenheit (Seikatsu no manzoku)
Das Gefühl, dass das Leben im Großen und Ganzen gut ist und zufriedenstellend verläuft.

Übung: Schreibe jeden Abend Dinge auf, für die du dankbar bist, das können die kleinsten Dinge sein – wir nennen sie Ikigai Momente. Es können solche sein, die du fast nicht bemerkt hättest - oder solche, die du in wenigen Tagen schon vergessen hast. Also etwa kleine Begegnungen im Alltag, eine Beobachtung der Natur oder eine schöne Nachricht, die du erhalten hast. Es kann auch etwas Einfaches sein, wie die Tatsache, dass du dich versorgt fühlst, gesund bist, u. v. m.

Das Wichtige ist der zweite Schritt: Beschreibe dann, was dein (Eigen-)Anteil an diesem Moment war. Dies ist wichtig für unser Bewusstsein über unsere Selbstwirksamkeit. Das kann etwas Einfaches sein – etwa: Deine Offenheit, Aufmerksamkeit oder etwas anderes, was diesen Ikigai-Moment ermöglicht hat . Diese Praxis hilft Ihnen, den Fokus auf positive Aspekte Ihres Lebens zu lenken und eine grundlegende Lebenszufriedenheit zu fördern.


Wachstum und Veränderung (Seicho to henka)
Diese Dimension spricht von der Fähigkeit und dem Wunsch, sich kontinuierlich weiter zu entwickeln und neue Erfahrungen zu machen.

Übung: Setze dir regelmäßig kleine Lernziele – ob auf täglicher, wöchentlicher oder monatlicher Basis, ist dir überlassen. Wähle ein Thema oder ein Buch, das dich interessiert. Nimm dir bewusst Zeit dafür, vielleicht während der Bahnfahrt oder in ruhigen Momenten des Tages. Erweitere dein Wissen und setze es in die Praxis um, indem du das Gelernte aufschreibst, weitergibst oder ausprobierst. Durch das Erleben von Wachstum und Veränderung entwickelst du ein tieferes Verständnis und Mitgefühl für die Herausforderungen und Erfolge anderer. Dies fördert nicht nur deine eigene Entwicklung, sondern auch dein Mitgefühl und deine Empathie.


Eine gute Zukunft (Yoi mirai)
Der Glaube und die Hoffnung auf eine positive Zukunft.

Übung: Visualisiere regelmäßig deine Zukunft durch Journaling und expressives und kreatives Schreiben. Male dir ein “Vision Board” und gib dir die Erlaubnis und den Raum zum Träumen. Wenn dich etwas konkret anspricht, mache daraus Ziele für die nächste Zeit und trage Erinnerungen in deinen Kalender ein. Nimm dir Zeit, um dir vorzustellen, wie du deine Ziele erreichen kannst und welche Schritte dafür notwendig sind. Eine weitere besonders effektive (und herausfordernde) Übung ist, sich intensiv vorzustellen, was passiert, wenn du deine Ziele nicht erreichst. Diese Übung kann dir helfen, herauszufinden, wie wichtig dir dieses Ziel ist - und deine Motivation, darauf hinzuarbeiten, zu stärken. Ein klarer Blick auf eine hoffnungsvolle Zukunft kann dein Mitgefühl für dich selbst und andere fördern, indem es eine positive und optimistische Einstellung stärkt.


Resonanz (Kyokan)
Tiefe, authentische Beziehungen und das Gefühl, verstanden zu werden

Übung: Erinnere dich daran, wie wichtig Freunde und Beziehungen sind. Visualisiere Treffen mit Freunden oder Familie – überlege, welche dir Energie geben und welche dir Energie nehmen.
Besinne dich auf dich selbst, nimm ein paar tiefe Atemzüge und überprüfe, welche Kapazität du für die kommenden Tage hast. Wenn du merkst, dass du derzeit keine großen Ressourcen für andere hast, bleibe bei Schritt eins und wende dich dir selbst zu – es ist dann (noch nicht) die Zeit, in Resonanz mit anderen zu gehen.

  • Schritt 1:
    Nimm ein paar tiefe Atemzüge und spüre und reflektiere im Sinne eines Mitgefühls für dich selbst („Self-Compassion“), was du brauchst, und lerne, deinen eigenen Gedanken und Gefühlen Raum zu geben – sie zu spüren und, wenn du magst, sie zu teilen. Setze dich in einer ruhigen Umgebung bequem hin und schließe die Augen. Lege eine Hand sanft auf dein Herz oder einen anderen beruhigenden Punkt auf deinem Körper. Atme tief ein und aus und konzentriere dich auf den rhythmischen Fluss deines Atems.

  • Schritt 2:
    Stelle dir nun vor, was ein guter Freund, ein Mentor, der dich gut kennt und es gut mit dir meint, über deine aktuelle Situation denken und fühlen würde. Wie würde diese Person mit dir reden? Würde sie dich ermutigen, dir selbst Mitgefühl entgegenzubringen?

  • Schritt 3:
    Überlege, was du brauchst und was du geben kannst. Notiere dir die Namen der Personen, mit denen du Kontakt aufnehmen möchtest, die du treffen möchtest und bei denen du dich einfach melden möchtest. Denke darüber nach, wem du Fragen stellen möchtest, wie es ihnen geht, oder ob du ihnen etwas Gutes wünschen möchtest. Wenn du ein klares „Ja“ spürst, kannst du auch einfach an sie denken (wie ein innerliches Gebet) und ihnen Gutes wünschen. Überlege, wem du Aufmerksamkeit schenken könntest, etwa durch bewusstes Zuhören oder empathische Gespräche. Diese Praxis fördert die Resonanz und das Gefühl von Verbundenheit mit dir selbst und anderen. Starke, authentische Verbindungen sind wesentliche Komponenten, um Mitgefühl zu üben und zu erfahren. Durch das Schaffen von Resonanz in deinen Beziehungen und mit dir selbst stärkst du deine Kapazität für Mitgefühl.


Freiheit (Jiyū)
Die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen und den eigenen Weg zu gehen.

Übung: Reflektiere über deine Werte und Prioritäten und stelle sicher, dass deine Entscheidungen im Einklang mit diesen stehen. Nimm dir Zeit, um über deine täglichen Handlungen nachzudenken und zu prüfen, ob sie mit deinen innersten Überzeugungen übereinstimmen. Diese Reflexion fördert das Gefühl von Autonomie und Freiheit. Selbstbestimmtheit ermöglicht es dir, authentisch und mitfühlend zu leben, ohne dich durch äußere Erwartungen einschränken zu lassen.


Selbstakzeptanz (Jiko no juyō)
Sich selbst so zu akzeptieren, wie man ist, mit all seinen Stärken und Schwächen.

Übung: Praktiziere Selbstmitgefühl durch Meditationen oder das Schreiben von Selbstmitgefühl-Briefen. Nimm dir regelmäßig Zeit, um dir selbst freundlich zu begegnen und deine eigenen Bedürfnisse und Gefühle zu akzeptieren. Diese Praxis hilft dir, dich selbst mit mehr Nachsicht und Akzeptanz zu begegnen. Selbstakzeptanz ist die Grundlage für echtes Mitgefühl, da du nur dann anderen gegenüber mitfühlend sein kannst, wenn du dich selbst mitfühlend akzeptierst.


Harmonie (Chōwa)
Ein harmonisches Leben im Einklang mit sich selbst und der Umwelt.

Übung: Integriere Achtsamkeitsübungen in deinen Alltag, wie Meditation oder achtsames Gehen. Versuche eine Sache pro Tag, die du im “Autopiloten” tust, mit doppelter Zeit in Ruhe zu erledigen. Nimm dir regelmäßig Zeit, um innezuhalten und den Moment bewusst wahrzunehmen. Diese Übungen erweitern deinen mentalen “Raum” (Jap. “Ma”) - den Raum, der nach Steven Covey zwischen Reiz und Reaktion liegt. Achtsamkeitstechniken fördern innere Zufriedenheit und ermöglichen bewusste Entscheidungen, was zu mehr Wohlbefinden führt. Studien haben gezeigt, dass Achtsamkeit die Aktivität im Default Mode Network (DMN), dem Netzwerk des „Autopiloten“, reduziert und so das Wohlbefinden steigert (Kabat-Zinn, 1982; Grossman et al., 2004). Achtsamkeit stärkt die Fähigkeit, im Moment zu leben und Mitgefühl in alltäglichen Interaktionen zu üben. Durch die Schaffung von Harmonie in deinem Leben kannst du ein tiefes Mitgefühl für dich selbst und andere entwickeln (Kabat-Zinn et al., 2018)​.


Quellen

  1. Batson, C. Daniel, et al. "Is Empathic Emotion a Source of Altruistic Motivation?" Journal of Personality and Social Psychology, 1981, Vol. 40, No. 2, pp. 290-302 (Batson et al., 1981).

  2. Singer, Tania, und Klimecki, Olga. "Empathy and Compassion." Current Biology, 2014, Vol. 24, No. 18, pp. 875-878 (Singer & Klimecki, 2014).

  3. Gilbert, Paul. The Compassionate Mind. Constable & Robinson Ltd, 2009 (Gilbert, 2009).

  4. Eagleman, David. "The Brain and Empathy." Scientific American Mind, 2012, pp. 45-51 (Eagleman, 2012).

  5. Kamiya, Mieko. Ikigai ni Tsuite. 1966 (Kamiya, 1966).

  6. Bandura, Albert. "Social Learning Theory." Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall, 1977 (Bandura, 1977).

  7. Kirby, James. Choose Compassion: Why It Matters and How It Works. University of Queensland Press, 2022 (Kirby, 2022).

  8. Breithaupt, Fritz. Die dunklen Seiten der Empathie. Suhrkamp Verlag, 2017.

  9. Kamiya, Mieko. A Woman with Demons. Biografie.

  10. Neff, Kristin. Self-Compassion: The Proven Power of Being Kind to Yourself. William Morrow, 2011.

  11. Doty, James R. Into the Magic Shop: A Neurosurgeon’s Quest to Discover the Mysteries of the Brain and the Secrets of the Heart. Avery, 2016.

  12. Kabat-Zinn, Jon, et al. "The clinical use of mindfulness meditation for the self-regulation of chronic pain." Journal of Behavioral Medicine, 1982.

  13. Grossman, Paul, et al. "Mindfulness-based stress reduction and health benefits: A meta-analysis." Journal of Psychosomatic Research, 2004.

  14. Kabat-Zinn, Jon, et al. "Mindfulness meditation-based programs for psychiatric disorders: A systematic review and meta-analysis." Journal of Psychiatric Practice, 2018.


 
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