Kintsugi – Narben aus Gold: Drei Perspektiven

Kintsugi macht Zerbruch sichtbar. Kintsugi lädt uns ein, über unsere sichtbaren und unsichtbaren Narben nachzudenken. Die Narben entstehen im Laufe unseres Lebens. Sie entstehen durch Verletzungen, die durch Geschehnisse, andere Personen oder uns selbst entstehen können. Im Gespräch mit James Doty* haben wir über unterschiedliche Perspektiven der Narben gesprochen. Eine Zusammenfassung gibt es in dem Video mit Motoki am Ende.

Die Narben werden häufig mit dem Zitat von Leonard Cohen in Verbindung gebracht:

There is a crack in everything, that’s how the light gets in.
— Leonard Cohen, Anthem, vom 1992 Album "The Future"

Die erste Perspektive auf Kintsugi: Licht fällt in unser Gefäß

Dies ist eine der bekannten Perspektiven auf Kintsugi: Licht fällt ins Innere. Es zeigt das tief Verborgene in uns auf. Das Licht kann das Kostbare sichtbar machen und Vergessene illuminieren. Es kann uns zu “blinden Flecken” führen.

Auch wenn Verletzungen und kleinere oder größere Kränkungen im Alltag schmerzhaft sein können, so können sie uns gleichermaßen Unverarbeitetes aus der Vergangenheit aufzeigen. Dies ermöglicht uns ein erneutes Annähern an Erfahrungen von Enttäuschung, Trauma und Vernachlässigung. In dieser Annäherung liegt das Potenzial einer Versöhnung mit unserer Vergangenheit. Dies ist die Kraft von Kintsugi: Versöhnung, eine “Restauration”, die über eine Wiederherstellung hinausgeht.

In unserem Live-Videomitschnitt von einem spontanen Beitrag einer Teilnehmerin an einem Kintsugi Abend beim House of Beautiful Dinner hören wir, wie der Lichteinfall etwas Kostbares für sie sichtbar gemacht hat.

 
 
Der größte Schaden, den Vernachlässigung, Trauma oder emotionaler Verlust anrichten, ist nicht der unmittelbare Schmerz, den sie verursachen, sondern die langfristigen Verzerrungen, die sie in der Art und Weise hervorrufen, wie ein sich entwickelndes Kind die Welt und seine Situation darin weiterhin interpretieren wird.
— Dr. Gabor Maté

Die zweite Perspektive auf Kintsugi:

Es geht nicht um die Narben, sondern um das innere Licht und die Schönheit, die durch sie hinaus scheinen.

James Doty erzählt in seinem Buch “Into the Magic Shop” seine eigene Geschichte, über den Jungen und später so erfolgreichen Neurochirurg, der erst im Laufe seines Lebens sein eigenes Herz fand. Dafür waren Höhen und Tiefen notwendig. James Doty spricht von Verletzungen, die nicht nur von anderen kamen, sondern die er sich selbst zugefügt hat: sei es durch Stolz, Hochmütigkeit und eigene Verfehlungen. Die Auseinandersetzung mit diesen Höhen und Tiefen war genau der Weg, über den er zu sich selbst fand.

James Doty schreibt:

Der Kopf ist mächtig, aber er kann uns nur das bringen, was wir wirklich wollen, wenn wir zuerst unser Herz öffnen.
— James Doty, Into the Magic Shop

In einem Instagram Live Talk sprach er kürzlich mit Motoki Tonn über Kintsugi:

Eine der Herausforderungen für uns alle ist, dass wir der Stimme in unserem Kopf glauben. Oft betont die Stimme, wie wir auf Traumata reagiert haben, die jedem von uns widerfahren sind und die Narben in unserem Herzen hinterlassen haben.

Leider lösen wir diese nicht auf und die meisten Ereignisse schmerzen uns unser ganzes Leben lang, und im Hintergrund sitzen sie da und wir wissen es nicht zu schätzen, aber sie beeinflussen, wie wir in der Welt reagieren.

Ich denke, eines der größten Dinge, die wir tun können, ist zu verstehen, dass dies das menschliche Dilemma ist. Wir alle haben diese Freunde, die uns verletzt haben, die uns vernarbt haben. Und in der modernen Welt teilen wir dies nicht mit anderen Menschen.

Wir haben nicht die Person, zu der wir gehen können und die uns bedingungslose Liebe und Akzeptanz gibt – und die uns klar macht, dass das der menschliche Zustand ist und dass es in Ordnung ist.

Es ist in Ordnung, Fehler zu machen. Es ist in Ordnung, verletzt zu sein.

Das Wichtigste ist, dass es in Ordnung ist, bedingungslos zu lieben und sich selbst zu verschenken.

Und wenn wir diese Art von Umfeld nicht um uns herum haben, passiert es, dass diese Dinge immer wieder auftauchen, aber sie sollten nicht etwas sein, das wir verstecken.
— James Doty, Instagram Live Talk 15.10.2022


Die dritte Perspektive auf Kintsugi: Die Narben erinnern uns daran, wer wir wirklich sind.

Wir sind keine perfekten Menschen. Eine Welt von automatisch optimierten Selfies möchte uns zeigen, dass es uns stets gut geht. Zugleich wissen wir alle, dass dies nicht der Fall ist. Und doch werden schwierige Themen häufig von uns vermieden und finden gesellschaftliche eher im Schatten statt. Dabei können wir selbstbewusst mit unseren Narben umgehen. Wir könnten sie sogar “stolz” zeigen und diese tiefgreifenden Veränderungen sichtbar machen. James Doty betont:

Die Ereignisse in unserem Leben haben uns in gewisser Weise zu dem gemacht, was wir sind. Und das ist das Wesen von Kintsugi, dieser japanischen Kunst der Reparatur von Töpferwaren mit goldenem Lack.

Sie verstecken nicht die Zerbrochenheit oder die Teile von Ihnen, die zerbrochen sind.

Denn sie setzen sich selbst wieder zusammen und diese Narben sind in vielerlei Hinsicht Ehrenzeichen dafür, dass Sie etwas durchgemacht und überlebt haben und dass es Ihnen gut ergangen ist.

Sie sollten sie nicht verstecken müssen, sollten nicht verstecken müssen, wer Sie sind.

Und genau darum geht es.
— James Doty, Instagram Live Talk 15.10.2022

Alle Perspektiven haben ihre Berechtigung

Wenn wir Kintsugi als Metapher auf unser Leben anwenden, ist jede der Perspektiven hilfreich:

1. Licht fällt in uns hinein: Wir entdecken Kostbares.

2. Licht scheint heraus: Wir dürfen Kostbares und Schönheit von innen bezeugen.

3. Licht fällt auf die Narben: Die Narben gehören zu uns – und sie formen uns. Sie sind Teil unserer Persönlichkeit, unseres inneren und äußeren Wesens. Sie formen uns zu der Gestalt, die wir sind.

Wir streben nach Authentizität, wir möchten verstanden und angenommen werden – so wie wir sind. Kintsugi kann uns mit diesen drei Perspektiven helfen, immer sorgsam und kunstvoll auf uns selbst zu schauen und zu prüfen, ob wir mit uns “im Reinen sind”.
— Klaus Motoki Tonn

Links und Hinweise:

  1. James Doty ist Professor für Neurochirugie an der Stanford Universität und dem Autor des Buches “Into the Magic Shop”. Darüber hinaus ist er der Gründer des Zentrums CCARE für Mitgefühls-Altruismusforschung & Erziehung an der Standford Universität.

  2. Motoki über das Gespräch mit James Doty bei Youtube.


 

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Kintsugi: Die goldene Kunst, Beziehungen zu reparieren

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