Narben aus Gold – Kintsugi als Metapher für unser Leben
Kintsugi 金継ぎ ist die japanische Kunst, Zerbrochenes wieder zusammen zu setzen. Es bedeutet sprichwörtlich “goldenes Zusammensetzen”. Kintsugi ist eine aufwendige Reparaturtechnik, bei der Keramikstücke wieder zu einem neuen Ganzen zusammengesetzt werden – die Narben werden anschließend mit echtem Gold bedeckt.
Der Ursprung des Kintsugi ist unbekannt. Einer Legende zufolge entstand die Technik Ende des 15. Jahrhunderts, als die chinesische Teeschale des Shogun Ashikaga Yoshimasa zerbrach. Der Legende nach schickte er die Schale zur Reparatur nach China. Als die Schale zurückkam, wurde sie mit Heftklammern geflickt, einem Verfahren, bei dem Metall in gebohrte Löcher auf beiden Seiten der Bruchstelle gesteckt wird, um die Teile zusammenzuhalten. Yoshimasa gefiel das Aussehen nicht, und er bat japanische Handwerker, eine neue, ästhetischere Methode zu entwickeln - die Anfänge des Kintsugi.
Es ist unklar, wie viel von dieser Geschichte wahr ist; sie deutet darauf hin, dass Kintsugi erst nach dem 15. Jahrhundert weit verbreitet war, etwa zu der Zeit, als die japanische Teezeremonie entwickelt wurde. Bei diesem Brauch, einer intimen Zusammenkunft mit besonderen und strengen Regeln, steht die Beziehung zwischen Gastgeber, Gästen und den sie umgebenden Gegenständen, wie hängenden Bildern und Teeutensilien, im Vordergrund. Jahrhunderts verfeinerten der japanische Teemeister Sen Rikyū und andere die Teezeremonie und begründeten die Ästhetik von Wabi und Sabi, die auch für die Entwicklung der japanischen Keramik von Bedeutung war.
Kintsugi und Wabi-Sabi: Vergänglichkeit und Neuanfang
Kintsugi basiert auf der Einzigartigkeit aller Dinge und ist der Philosophie Wabi-Sabi sehr nahe. Obwohl die Begriffe schwer zu übersetzen sind, betont wabi im Allgemeinen die Schönheit in der Einfachheit, während sabi als Wertschätzung des Alten verstanden wird. Zusammen bilden sie die japanische Philosophie des Wabi-Sabi, die den Wert des Unvollkommenen und Vergänglichen betont.
Wabi-Sabi bedeutet in der japanischen Ästhetik, dass Schönheit im Unvollkommenen, Unbeständigen und Einfachen zu finden ist.
Die Kintsugi-Philosophie zeigt uns, dass ein Bruch nicht das Ende ist – es ist die Chance für einen neuen Anfang.
Wenn eine kunstvolle Reperatur gelingt, kann aus Zebrochenem und Unvollkommenheiten ein noch viel stärkeres, schönes, neues Kunstwerk entstehen. Dabei sehen wir die Fertigkeit, Liebe zum Prozess, Genauigkeit und Geduld im Dokumentarfilm von Klaus Motoki Tonn über einen Kintsugi-Meister aus Tokio.
Der Kintsugi Film aus Japan
Kintsugi Philosophie
In der Kintsugi Philosophie liegt eine Abkehr zum Perfektionismus und vermeintlich äußerer Schönheit und zugleich eine Annahme und Demonstration von Mut, sich Zerbruch zu stellen. Kintsugi bedeutet, sich auf einen längeren Prozess einzulassen – denn die Reparatur benötigt Wochen und Monate und beinhaltet längere Ruhephasen, was häufig übersehen; dazu später mehr.
Die Kintsugi Philosophie verlangt Geduld, Aufmerksamkeit und Sorgfalt – dann kann aus Zerbrochenem etwas Einzigartiges entstehen.
Kintsugi ermöglicht Perspektivwechsel
Kintsugi kann eine lebensverändernde Metapher für unser Leben sein. Wenn wir die Lehren der Kintsugi Philosophie auf unser Leben übertragen, kann diese Handwerkskunst die Kraft entfalten, eine Situation in neuem Licht erscheinen zu lassen. Lebenserfahrungen, die für wir als “zerbrochen” oder “verloren” in Erinnerung haben, können so eine neue Wendung erhalten.
Unser Leben verläuft nicht immer geradlinig und nicht immer nach unseren Vorstellungen. Wie wir unsere Fragmente betrachten und Verbindungen zwischen Lebensereignissen herstellen, ist unsere Entscheidung. Die Kintsugi-Philosophie gibt uns die Möglichkeit, in unseren Fragmenten eine zusammenhängende Geschichte zu entdecken. Kintsugi ermöglicht es uns, Erfahrungen von Brüchen als Teil einer größeren, zusammenhängenden Geschichte zu verstehen.
Das Geheimnis von Kintsugi verstehen
Kintsugi eröffnet neue Sinnzusammenhänge
Wie können scheinbar zusammenhanglose Puzzleteile unseres Lebens ein Bild ergeben?
Kintsugi hat die Kraft, unserer Geschichte einen Sinnzusammenhang zu geben. Das Gefäß wird in eine neue Gestalt transformiert. Die neue Gestalt ist wiederum für sich einzigartig, zugleich bleibt die alte Form in Grundzügen erhalten. Wir können sowohl das Alte als auch das Neue erkennen – mit Narben aus Gold.
Brüche wertschätzen
Wir können erkennen: Jeder Bruch, jedes einzelne Stück ist ein Unikat in der Kintsugi-Technik. Anstatt einen Gegenstand wie neu zu reparieren, werden bei dieser jahrhundertealten Technik die 'Narben' als integraler Bestandteil der neuen Form hervorgehoben und zum Glänzen gebracht.
Die Narben werden nicht kaschiert, sondern betont – sie werden nicht verdrängt, sondern erhalten eine Würdigung.
Hier sehen wir das Gefäß nach der Reparatur mit der Kintsugi-Technik. Es erscheint durch das aufgetragene Gold im neuen Glanz.
Neue Perspektiven gewinnen
Wenn wir Kintsugi als Metapher anwenden, lernen wir: Wir können uns mit der Vergangenheit versöhnen, indem wir uns Zerbruch liebevoll zuwenden. Diese Versöhnungsarbeit ist ein Bestandteil der IKIGAI Dimensionen nach Mieko Kamiya. Hierdurch können wir einen konstruktiven Zugang zu auch schmerzhaften Erinnerungen erhalten. Wir können sie als Ressource verstehen, die uns Erfahrungen, neue Sinnzusammenhänge und Kraft für die Herausforderungen der Gegenwart geben. So entstehen höchstpersönliche, einzigartige Quellen für unser Leben im Hier und Jetzt.
Unser Reichtum an Erfahrungen ist eine große Ressource für unsere Zukunft. Das Mosaik aus Vergangenem und Neuem ist eine Quelle unserer Widerstandsfähigkeit. Sie macht uns resilient.
Gold in unseren Schatten entdecken
Auch wenn Dinge zerbrechen, können wir neue Schätze entdecken, die sich im Inneren verbergen. Dies berichtet eine Teilnehmerin aus einem Kintsugi-Workshop beim House of Beautiful Business. Sie ist so bewegt von der Kintsugi-Metapher, dass sie mit allen eine Geschichte aus ihrem Leben teilen muss, die nun eine tiefere Bedeutung gefunden hat. In ihrer Geschichte macht der Bruch etwas Wertvolles sichtbar.
Diese Erfahrung wird für sie zu einer unvergesslichen Geschichte, die sich mit ihrem Leben verbindet. Kintsugi zeigt sich hier in der Schönheit des Unvollkommenen (Wabi-Sabi). Durch das Teilen dieser einzigartigen Erfahrung hat sie allen Beteiligten die Perspektive des Neuanfangs nahe gebracht. Es ist etwas sehr Wertvolles, wenn wir unsere Brüche teilen. Mehr zu Verletzlichkeit und unseren Brüchen findet ihr auch in unserer umfassenden Kintsugi-Reflexionseinheit.
Diese wahre Kintsugi-Geschichte übersetzt:
“Ich habe von jemandem einen ganz besonderen Stein als Geschenk bekommen, das mir Trost spenden sollte. Leider ließ ich den Stein fallen, wodurch er einen großen Riss bekam. Als ich den Stein mit Tränen in den Augen zurückgab, versicherte mir die Person, dass der Stein durch den Riss nicht an Schönheit verloren hat.
Ich fühlte mich schuldig, weil ich scheinbar immer perfekte Dinge zerbreche, aber mir wurde gesagt, dass der Stein jetzt eine Geschichte hat und dadurch noch schöner ist.
Obwohl der Stein später vollständig zerbrach, bewahre ich die Stücke auf. Das Innere des Steins, das durch den Bruch sichtbar wurde, ist atemberaubend und lehrte mich eine wichtige Lektion:
Oft verbirgt sich wahre Schönheit und Wert in den unvollkommenen, gebrochenen Teilen. Diese Erfahrung erinnerte mich stark an euren Film, in dem die Bedeutung von Heilung und Geduld thematisiert wurde, um etwas Neues und Schönes zu erschaffen.”
Geduld und Stille
Kintsugi ist ein achtsamer Prozess, der uns Menschen in unserer modernen Zeit herausfordert, Geduld zu üben. Die Wiederherstellung geschieht zu großen Teilen in Phasen, wenn das Gefäß im Schrank geschützt ruhen muss. In dieser Zeit passiert vermeinlich nichts –das Gefäß muss ruhen. Die Verbindungen aus Reiskleber und Urushi-Lack werden hart. Diese Ruhezeiten nehmen im Kintsugi-Prozess mehr Raum ein als die eigentliche handwerklichen Arbeiten des Kintsugi-Meisters.
Kintsugi als Lebensphilosophie
Wir können den Prozess der Kintsugi-Kunst auf das eigene Leben übertragen. Dies ermöglicht einen neuen Blick auf den Umgang mit Veränderungen, Herausforderungen und körperlichen und seelischen Verletzungen.
Die Metapher des Kintsugi kann in Lebenshaltungen übersetzt werden. Dies haben wir bei Finde Zukunft mit dem Akronym K.I.N.T.S.U.G.I. entwickelt.
K: Kindness – “karu”, ein germanisches Wort – es steht für eine Haltung von Freundlichkeit und Fürsorge.
I: Investigation – mit Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Geduld in den Prozess gehen.
N: Notieren – Bemerken, analysieren, was Zuwendung benötigt, welche Strategie hilft – und auch, was eine Pause braucht.
T: Touch – Berührung ist etwas Kostbares, Intimes – und kann zugleich eine neue Verbindung zur Verletzung und somit einen Heilungsprozess ermöglichen. Was darf mich (nicht) berühren?
S: Stille – Der Kintsugi Prozess ist geprägt von Pausen und Stille. Das Gefäß braucht Ruhe, bevor es in den nächsten Schritt geht. Die Verbindungen müssen stabil werden. In der vermeintlichen Ruhe, wird die Gestalt stark.
U: Utensilien – welche Ressourcen und Werkzeuge stehen uns zur Verfügung? Welche Erfahrungen aus der Vergangenheit können wir aktivieren?
G: Gold – das Gold repräsentiert Würde und eine Transformation. Die Narben werden nicht versteckt, im Gegenteil, sie zeigen die veränderte Gestalt in neuem Glanz.
I: Intention – was ist jetzt möglich? Kintsugi ist weit mehr als ein äußerlicher Prozess. Die wahre Veränderung vollzieht sich im Inneren. Was haben wir gelernt, was wird jetzt möglich? Wozu befähigen uns diese Erfahrungen?