Kintsugi – der Prozess des Sterbens
Dies ist der zweite Teil des Artikels “Kintsugi – Ein Prozess des Loslassens”.
Er führt den Gedanken des Loslassens fort und beschäftigt sich mit der Dynamik von Leben und Tod.
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Kintsugi und der Prozess des Sterbens
Wenn wir uns mit dem Loslassen und Zerbruchserfahrungen beschäftigen, können wir von der jahrzehntelangen Arbeit von Elisabeth Kübler-Ross lernen. Elisabeth Kübler-Ross wird am häufigsten mit ihrem fünfstufigen Modell des Sterbens verbunden, dass für die Bewältigung von Veränderungen (“Change”) und Kommunikation adaptiert wurde.
Elisabeth Kübler-Ross hat uns mit ihrer Weisheit viel mehr hinterlassen, als ein Modell. Sie selbst schrieb ihr letztes Werk mit David Kessler im Angesicht ihres nahenden Todes.
Dabei verlor sie nie ihren Humor und beschreibt zugleich einen Prozess:
Wenn wir etwas oder jemanden loslassen (müssen), öffnet dies einen tiefgreifenden Prozess für uns, der über das physisch-materielle hinaus geht:
Monika Renz hat in ihrem Leben über tausend von Menschen im Sterben begleitet. Das Sterben stellt sich für sie als Prozess dar (“Davor”, “Hindurch”, “Danach”), in dem Sterbende nicht nur Körper, Geist und Seele loslassen. Sterbende sind nach ihrer Beobachtung vor dem eigentlichen Tod mit dem Loslassen ihrer gesamten Ich-bezogenen Wahrnehmung konfrontiert.
Alle Formulierungen, die wir auf unser Ich beziehen (“Ich spüre”, “ich liebe” “ich bin”) lösen sich auf oder werden “umgewandelt”. Es ist ein Übergangsgeschehen, das auch zur Auflösung von Vorstellungen von Raum und Zeit führen kann.
“Sterbende durchlaufen eine Wahrnehmungsverschiebung (transformation of perception) und einen Übergang (transition). Im Zugehen auf den Tod tritt nicht nur das Ich, sondern auch die uns selbstverständliche subjekthafte, ich-bezogene Wahrnehmung (was Ich wollte, dachte, fühlte, alle Bedürfnisse im Ich, Ängste im Ich) in den Hintergrund.
Dasselbe gilt für die Reaktionsmuster als ein Ich bis hin zu unseren Reflexen und Instinkten.
Eine andere Welt, ein anderer Bewusstseinszustand, andere Sinneserfahrungen und eine andere Erlebnisweise rücken in den Vordergrund und all dies unabhängig von Weltanschauung und Glaube.
Die Wahrnehmungsverschiebung verändert auch unsere Erfahrung von Sein, von Beziehung und von Würde. Sterben ist ein Prozess.” – Monika Renz
Die Rolle des Kintsugi Meisters in der Transformation
Wir können den Kintsugi Meister nach dieser Beschreibung auch als Begleiter eines Überganges verstehen. Er ist Hüter des Prozesses, er weiß, wann es welche Intervention braucht – und wenn Ruhe und Stille vonnöten sind. Einen Großteil seiner Arbeit wird er das Objekt nur betrachten. Seine sorgfältige Beobachtung und seine Erfahrung aus vielen hunderten von Restaurationsprozessen ist Grundlage seiner Arbeit.
Loslassen: Die Weisheit des Sterbens
Das Sterben kann uns viele Weisheiten offenbaren.
Wenn wir uns dem Sterben stellen, erkennen wir die Qualität des Lebens.
Dies kann uns die Furcht vor dem Sterben nehmen. “Es ist die Furcht, die sich bei den meisten Menschen im Angesicht ihres Todes bemerkbar macht”, Kathleen Dowling Singh, The Grace in Dying. Dabei ist es nicht die Furcht vor dem Sterben selbst, sondern vor dem Prozess des Sterbens in Angesicht endgültig limitierter Zeit: Furcht vor einer unwürdigen Behandlung, Furcht vor ungeklärten Verhältnissen, Furcht vor dem Alleinsein.
Im Prozess des Loslassen entsteht die Chance für eine Transformation unserer inneren Welt. Von Furcht zu einem Gefühl des Friedens, von Sorge des Alleinseins zu einem Gefühl des Gesehen-werdens. Studien zufolge sind dies Elemente, die Sterbende als zentrale Hoffnungen in Prozessen von Versöhnung und Vergebung beschreiben (Renz et al. 2020).
Die Auseinandersetzung mit dem Kintsugi-Prozess birgt die Chance einer inneren Transformation, die dem gegenständlichem Loslassen vorausgeht. Diese Veränderung ist nicht offensichtlich, sie stellt einen tiefgreifenden, inneren Prozess dar. Dieser Prozess kann jedoch zu neuen Perspektiven führen, die für unser Leben neue Qualitäten offenbart.
Die Zeilen von Miyauchi Tonao fassen dies so zusammen:
KINTSUGI - Wundersame Scherben
Gleich nachdem ich im Feuer geboren wurde, wurde ich auf den Boden geworfen und zerbrach in Stücke.
Der uralte Töpfer der mich erschaffen hatte, beschloss, dass ich minderwertig sei und niemals benutzt werden sollte.
Also lag ich auf dem Boden, wurde von Regen und Wind begossen und dann 400 Jahre lang in der Erde vergraben.
Eines Tages traf mich eine Hacke, und ich sprang aus dem Boden. Man nannte mich ein Ärgernis auf dem Reisfeld und warf mich zur Seite.
Aber nach einer Weile hob mich ein Mann auf, nahm mich mit nach Hause und wusch mich.
Als ich das nächste Mal aufwachte, wurden andere Chawan-Stücke mit mir aus Gold zusammengefügt, um einen schönen neuen vergoldeten Chawan zu schaffen - mich.
Jetzt schätzen mich die Menschen. Und ich habe beschlossen, dass ich noch ein oder zweihundert Jahre – oder vielleicht für immer leben werde.
Perspektiven von Licht und Hoffnung
Kintsugi wird häufig mit dem Zitat von Leonard Cohen in Verbindung gebracht:
Dies ist eine wichtige Perspektive: Unsere Zerbrüche – oder vielmehr unsere Zerbruchstellen – lassen etwas Tieferliegendes in uns sichtbar werden. Wir und andere werden eingeladen, das zu Entdecken, was der Zerbruch zu Tage fördert.
Zugleich gibt es auch eine weitere Perspektive, die uns Elisabeth Kübler-Ross aufzeigt:
"Menschen sind wie Buntglasfenster. Sie funkeln und glänzen wenn, die Sonne scheint, aber wenn die Dunkelheit hereinbricht, kommt ihre wahre Schönheit nur zum Vorschein, wenn ein Licht von innen kommt."
― Elisabeth Kübler-Ross
Licht ist immer eine Reflexion. Schatten schaffen Kontraste. Wir können sie als Bereiche verstehen, die (noch) nicht ausreichend Licht reflektieren. Kintsugi schafft ein Bewusstsein, eine Unvollkommenheit, die Lichteinfall und Reflexion ermöglicht. Das Bild, dass wir dadurch erhalten, ist wiederum eine Reflexion. Eine Momentaufnahme – das Einfangen einer Reflexion.
Je mehr wir uns auf das Bild einlassen, je mehr wir zur Ruhe kommen, umso mehr werden wir erkennen können.
Es ist geradezu wie bei einer Langzeitbelichtung: Wir können mit etwas Geduld selbst in den dunkelsten Bereichen Details wahrnehmen.
„Kintsugi ist ein liebevoller, kunstvoller Prozess, der uns einlädt, die Details von Zerbruch und Wiederherstellung wahrzunehmen. Dadurch können wir sie würdigen, Zusammenhänge erkennen und verstehen. Kintsugi ist ein Prozess von vielen Pausen – und als Betrachtende werden wir selbst zur Pause und Betrachtung eingeladen. Wenn wir uns darauf einlassen, können wir uns selbst in dem Kintsugi Kunstwerk wiedererkennen.“ – Motoki Tonn
Kintsugi lädt uns ein, still zu werden, innezuhalten, eine Pause zu machen, Abstand zu nehmen. „Silence is the fertile ground for growth“, betonte Henri Nouwen immer wieder. In der Ruhe finden wir Kraft, in der Ruhe finden wir zu uns selbst. Die Qualität dieser Ruhe macht etwas möglich, dass wir durch unser aktiv-sein nicht bewirken können.
Ohne Pause kein Kintsugi.
Pausen sind ein essentieller Bestandteil des Kintsugi Prozesses. Die Pausen nehmen dabei einen größeren Teil ein, als die aktive Arbeit des Kintsugi Meisters. Durch die Pausen kann die Arbeit ruhen und die Verbindungen stabil werden. Hierdurch entsteht die Basis für die Kintsugi Gestalt. Eine Vergoldung ist der (äußerliche) Abschluss eines tiefgreifenden Restaurationsprozesses, der ohne die innere Arbeit nicht möglich wäre.
Reflexionsfragen
Eine Einladung zur Reflexion:
Was benötigt eine Pause?
Welche Veränderungen verdienen mehr Geduld?
Welche Annahme in mir hindert mich daran, mich mehr auf Pausen einzulassen?