Kintsugi – eine Perspektive über das Sterben hinaus
Dies ist der zweite Teil des Artikels “Kintsugi – Ein Prozess des Loslassens”.
Er führt den Gedanken des Loslassens fort und beschäftigt sich mit der Dynamik von Trauer, Leben und Tod.
Kintsugi und der Prozess des Sterbens
In der Kintsugi-Kunst, der japanischen Technik des Reparierens von zerbrochenem Keramikgeschirr mit goldveredeltem Lack, spielt das Konzept des Sterbens eine zentrale Rolle. Der Prozess des Zerbrechens und Wiederherstellens offenbart die Vergänglichkeit und den Verlust, die oft mit Transformation einhergehen.
Nicht alle Teile können gerettet werden
Ein zerbrochenes Gefäß besteht aus vielen Scherben, doch nicht alle können wiederverwendet werden. Einige Fragmente sind zu klein, zu beschädigt oder schlicht nicht mehr integrierbar. Was entsteht, ist ein neues, verändertes Objekt. Es trägt die Spuren seines Bruchs sichtbar nach außen und gewinnt durch seine Reparatur eine einzigartige, oft noch wertvollere Bedeutung.
Die ursprüngliche Form bleibt unerreichbar
Selbst wenn die wesentlichen Teile eines Gefäßes wieder zusammengesetzt werden, ist die ursprüngliche Form oft verloren. Das neue Gefäß ist nicht mehr identisch mit seinem früheren Selbst. Es zeigt: Das Alte kann nicht vollständig zurückgebracht werden. Doch in der Veränderung liegt eine neue Schönheit, die die Geschichte des Bruchs und der Heilung sichtbar macht.
Ein neuer Zweck entsteht
Der ursprüngliche Zweck des Objekts geht oft verloren. Manche reparierten Gefäße bleiben trotz aufwendiger Restaurierung porös, ihre praktische Funktion ist eingeschränkt. Doch das schmälert nicht ihren Wert. Sie erhalten eine neue Bestimmung – als Kunstwerke, Erinnerungsstücke oder Symbole für Resilienz und Neubeginn.
Die Materialien erzählen vom Sterben und Geben
Auch die Materialien, die in der Kintsugi-Kunst verwendet werden, spiegeln das Konzept des Sterbens wider. Der Urushi-Baum, der den kostbaren Lack liefert, ist essenziell für den Prozess, zahlt jedoch einen hohen Preis.
Um den natürlichen Lack zu gewinnen, wird die Rinde des Baumes vorsichtig angeritzt. Der Baum gibt seinen Lebenssaft, den Urushi-Lack, frei, der die Brüche verbindet. Dieser Prozess schwächt den Baum so stark, dass er nach der Ernte stirbt. Doch aus seinen Wurzeln wächst im darauffolgenden Frühjahr ein neuer Baum heran.
Der Kreislauf von Geben und Sterben
In Kintsugi wird der Tod nicht als Ende betrachtet, sondern als integraler Teil des Prozesses akzeptiert. Der Kreislauf von Zerbrechen, Sterben und Neuwerden spiegelt die Essenz des Lebens wider. Verlust und Vergänglichkeit machen den Weg frei für Transformation und neue Schönheit.
Sterben als Übergang in der Care- und Hospizarbeit
Wenn wir uns mit dem Loslassen und Zerbruchserfahrungen beschäftigen, können wir von der jahrzehntelangen Arbeit von Elisabeth Kübler-Ross lernen. Elisabeth Kübler-Ross war eine Pionierin in der Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Trauer, die das Verständnis dieser Themen weltweit revolutionierte. Als schweizerisch-US-amerikanische Psychiaterin und Autorin prägte sie mit ihrem Engagement für Sterbeforschung und -begleitung die Art und Weise, wie wir über die letzten Phasen des Lebens nachdenken und mit ihnen umgehen.
Ihr Fünf-Phasen-Modell, das den emotionalen Umgang sterbenskranker Menschen mit ihrer Situation beschreibt, wurde zu einem der einflussreichsten Konzepte in der Psychologie, Sozialarbeit und Medizin. Es fand zudem Anwendung in der Bewältigung von Krisen und Veränderungsprozessen weit über die Hospiz- und Palliativarbeit hinaus.
Das Fünf-Phasen-Modell nach Elisabeth Kübler-Ross
In ihrem Modell beschrieb Kübler-Ross fünf emotionale Phasen, die Menschen bei schweren Verlusten oder im Angesicht des Todes durchleben können:
Leugnen: "Das kann nicht wahr sein."
Zorn: "Warum ich?"
Verhandeln: "Wenn ich nur mehr Zeit hätte..."
Depression: "Es ist alles sinnlos."
Akzeptanz: "Ich bin bereit."
Das Modell dient nicht als starre Anleitung, sondern als Orientierungshilfe, um die emotionalen Bedürfnisse von Sterbenden und Trauernden besser zu verstehen und einfühlsam zu begleiten.
Einfluss auf die Hospiz- und Palliativbewegung
Elisabeth Kübler-Ross war die zentrale Figur in der Entstehung der modernen Hospizbewegung. Ihre Überzeugung, dass jeder Mensch ein Recht auf würdevolle, mitfühlende Begleitung in den letzten Lebensphasen hat, trieb die Entwicklung der Palliativpflege weltweit voran.
Ihre 1970 gehaltene Ingersoll-Vorlesung an der Harvard University, in der sie ihre Erkenntnisse vorstellte, und ihr Engagement in der Ausbildung medizinischer Fachkräfte machten sie zu einer inspirierenden Wegbereiterin. Bis 1982 unterrichtete sie über 125.000 Studenten in Psychologie, Medizin und Sozialarbeit, wodurch sie nachhaltig die Praxis in der Sterbebegleitung prägte.
Ihr spirituelles Vermächtnis über den Tod hinaus
In ihren späteren Jahren wandte sich Kübler-Ross verstärkt spirituellen Fragen zu. Sie betrachtete den Tod nicht als Ende, sondern als Übergang in eine andere Form der Existenz. Ihr letztes Buch "On Grief and Grieving", das sie gemeinsam mit David Kessler schrieb, reflektiert sowohl ihre persönlichen Erfahrungen als auch ihre Einsichten in die spirituellen Aspekte von Verlust und Trauer.
Über das Loslassen
Wenn wir etwas oder jemanden loslassen (müssen), öffnet dies einen tiefgreifenden Prozess für uns, der über das physisch-materielle hinaus geht:
Monika Renz hat in ihrem Leben über tausend von Menschen im Sterben begleitet. Das Sterben stellt sich für sie als Prozess dar (“Davor”, “Hindurch”, “Danach”), in dem Sterbende nicht nur Körper, Geist und Seele loslassen. Sterbende sind nach ihrer Beobachtung vor dem eigentlichen Tod mit dem Loslassen ihrer gesamten Ich-bezogenen Wahrnehmung konfrontiert.
Alle Formulierungen, die wir auf unser Ich beziehen (“Ich spüre”, “ich liebe” “ich bin”) lösen sich auf oder werden “umgewandelt”. Es ist ein Übergangsgeschehen, das auch zur Auflösung von Vorstellungen von Raum und Zeit führen kann.
“Sterbende durchlaufen eine Wahrnehmungsverschiebung (transformation of perception) und einen Übergang (transition). Im Zugehen auf den Tod tritt nicht nur das Ich, sondern auch die uns selbstverständliche subjekthafte, ich-bezogene Wahrnehmung (was Ich wollte, dachte, fühlte, alle Bedürfnisse im Ich, Ängste im Ich) in den Hintergrund.
Dasselbe gilt für die Reaktionsmuster als ein Ich bis hin zu unseren Reflexen und Instinkten.
Eine andere Welt, ein anderer Bewusstseinszustand, andere Sinneserfahrungen und eine andere Erlebnisweise rücken in den Vordergrund und all dies unabhängig von Weltanschauung und Glaube.
Die Wahrnehmungsverschiebung verändert auch unsere Erfahrung von Sein, von Beziehung und von Würde. Sterben ist ein Prozess.” – Monika Renz
Die Rolle des Kintsugi Meisters in der Transformation
Wir können den Kintsugi Meister nach dieser Beschreibung auch als Begleiter eines Überganges verstehen. Er ist Hüter des Prozesses, er weiß, wann es welche Intervention braucht – und wenn Ruhe und Stille vonnöten sind. Einen Großteil seiner Arbeit wird er das Objekt nur betrachten. Seine sorgfältige Beobachtung und seine Erfahrung aus vielen hunderten von Restaurationsprozessen ist Grundlage seiner Arbeit.
Loslassen: Die Weisheit des Sterbens
Das Sterben kann uns viele Weisheiten offenbaren.
Wenn wir uns dem Sterben stellen, erkennen wir die Qualität des Lebens.
Dies kann uns die Furcht vor dem Sterben nehmen. “Es ist die Furcht, die sich bei den meisten Menschen im Angesicht ihres Todes bemerkbar macht”, Kathleen Dowling Singh, The Grace in Dying. Dabei ist es nicht die Furcht vor dem Sterben selbst, sondern vor dem Prozess des Sterbens in Angesicht endgültig limitierter Zeit: Furcht vor einer unwürdigen Behandlung, Furcht vor ungeklärten Verhältnissen, Furcht vor dem Alleinsein.
Im Prozess des Loslassen entsteht die Chance für eine Transformation unserer inneren Welt. Von Furcht zu einem Gefühl des Friedens, von Sorge des Alleinseins zu einem Gefühl des Gesehen-werdens. Studien zufolge sind dies Elemente, die Sterbende als zentrale Hoffnungen in Prozessen von Versöhnung und Vergebung beschreiben (Renz et al. 2020).
Die Auseinandersetzung mit dem Kintsugi-Prozess birgt die Chance einer inneren Transformation, die dem gegenständlichem Loslassen vorausgeht. Diese Veränderung ist nicht offensichtlich, sie stellt einen tiefgreifenden, inneren Prozess dar. Dieser Prozess kann jedoch zu neuen Perspektiven führen, die für unser Leben neue Qualitäten offenbart.
Die Zeilen von Miyauchi Tonao fassen dies so zusammen:
KINTSUGI - Wundersame Scherben
Gleich nachdem ich im Feuer geboren wurde, wurde ich auf den Boden geworfen und zerbrach in Stücke.
Der uralte Töpfer der mich erschaffen hatte, beschloss, dass ich minderwertig sei und niemals benutzt werden sollte.
Also lag ich auf dem Boden, wurde von Regen und Wind begossen und dann 400 Jahre lang in der Erde vergraben.
Eines Tages traf mich eine Hacke, und ich sprang aus dem Boden. Man nannte mich ein Ärgernis auf dem Reisfeld und warf mich zur Seite.
Aber nach einer Weile hob mich ein Mann auf, nahm mich mit nach Hause und wusch mich.
Als ich das nächste Mal aufwachte, wurden andere Chawan-Stücke mit mir aus Gold zusammengefügt, um einen schönen neuen vergoldeten Chawan zu schaffen - mich.
Jetzt schätzen mich die Menschen. Und ich habe beschlossen, dass ich noch ein oder zweihundert Jahre – oder vielleicht für immer leben werde.
Perspektiven von Licht und Hoffnung
Kintsugi wird häufig mit dem Zitat von Leonard Cohen in Verbindung gebracht:
Dies ist eine wichtige Perspektive: Unsere Zerbrüche – oder vielmehr unsere Zerbruchstellen – lassen etwas Tieferliegendes in uns sichtbar werden. Wir und andere werden eingeladen, das zu Entdecken, was der Zerbruch zu Tage fördert.
Zugleich gibt es auch eine weitere Perspektive, die uns Elisabeth Kübler-Ross aufzeigt:
"Menschen sind wie Buntglasfenster. Sie funkeln und glänzen wenn, die Sonne scheint, aber wenn die Dunkelheit hereinbricht, kommt ihre wahre Schönheit nur zum Vorschein, wenn ein Licht von innen kommt."
― Elisabeth Kübler-Ross
Licht ist immer eine Reflexion. Schatten schaffen Kontraste. Wir können sie als Bereiche verstehen, die (noch) nicht ausreichend Licht reflektieren. Kintsugi schafft ein Bewusstsein, eine Unvollkommenheit, die Lichteinfall und Reflexion ermöglicht. Das Bild, dass wir dadurch erhalten, ist wiederum eine Reflexion. Eine Momentaufnahme – das Einfangen einer Reflexion.
Je mehr wir uns auf das Bild einlassen, je mehr wir zur Ruhe kommen, umso mehr werden wir erkennen können.
Es ist geradezu wie bei einer Langzeitbelichtung: Wir können mit etwas Geduld selbst in den dunkelsten Bereichen Details wahrnehmen.
„Kintsugi ist ein liebevoller, kunstvoller Prozess, der uns einlädt, die Details von Zerbruch und Wiederherstellung wahrzunehmen. Dadurch können wir sie würdigen, Zusammenhänge erkennen und verstehen. Kintsugi ist ein Prozess von vielen Pausen – und als Betrachtende werden wir selbst zur Pause und Betrachtung eingeladen. Wenn wir uns darauf einlassen, können wir uns selbst in dem Kintsugi Kunstwerk wiedererkennen.“ – Motoki Tonn
Kintsugi lädt uns ein, still zu werden, innezuhalten, eine Pause zu machen, Abstand zu nehmen. „Silence is the fertile ground for growth“, betonte Henri Nouwen immer wieder. In der Ruhe finden wir Kraft, in der Ruhe finden wir zu uns selbst. Die Qualität dieser Ruhe macht etwas möglich, dass wir durch unser aktiv-sein nicht bewirken können.
Ohne Pause kein Kintsugi
Pausen sind ein essentieller Bestandteil des Kintsugi Prozesses. Die Pausen nehmen dabei einen größeren Teil ein, als die aktive Arbeit des Kintsugi Meisters. Durch die Pausen kann die Arbeit ruhen und die Verbindungen stabil werden. Hierdurch entsteht die Basis für die Kintsugi Gestalt. Eine Vergoldung ist der (äußerliche) Abschluss eines tiefgreifenden Restaurationsprozesses, der ohne die innere Arbeit nicht möglich wäre.
Reflexionsfragen
Eine Einladung zur Reflexion:
Was benötigt eine Pause?
Welche Veränderungen verdienen mehr Geduld?
Welche Annahme in mir hindert mich daran, mich mehr auf Pausen einzulassen?