Kintsugi – ein stiller Prozess des Loslassens

Die schönsten Menschen die wir kennengelernt haben, sind diejenigen, die Niederlagen, Leiden, Kämpfe und Verluste erlebt haben und ihren Weg aus der Tiefe gefunden haben. Diese Menschen haben eine Wertschätzung, eine Sensibilität und ein Verständnis für das Leben, das sie mit Mitgefühl, Sanftmut und einer tiefen, liebevollen Sorge erfüllt. Schöne Menschen gibt es nicht einfach so.
— Elisabeth Kübler-Ross

Kintsugi ist ein tiefgreifender Prozess

Kintsugi wird oft mit dem hoffnungsvollen Bild der Vergoldung von Narben in Verbindung gebracht - und das ist richtig. Das japanische Wort Kintsugi setzt sich aus zwei Silben zusammen: „Kin“ für „Gold“ und „tsugi“ für „Verbinden“.

Kintsugi (金継ぎ Kintsugi verbindet, was zerbrochen war, Kintsugi fügt wieder zusammen, was zerbrochen war, Kintsugi verleiht der Form durch das Gold der Verbindungselemente einen einzigartigen Glanz - man könnte sagen, eine neue Würde.

Wenn wir jedoch nur die Oberfläche betrachten, werden wir dem tiefgreifenden Kintsugi-Prozess nicht gerecht. Kintsugi ist ein stiller und tiefgreifender Prozess, der Geduld und Sorgfalt erfordert.

Kintsugi und das Gold

Die Schönheit der Goldelemente kann uns dazu verleihen, Kintsugi nur als äußerlichen Prozess der Verschönerung zu verstehen. Dies mündet darin, dass es bereits fertiges Kintsugi Geschirr zu kaufen gibt – ein Zerbruch hat hier nie statt gefunden. Das ist eine starke Verkürzung und wird der jahrhundertealten Technik nicht gerecht:

Wir erfreuen uns an den Goldadern und müssen uns mit dem Bruch nicht mehr auseinandersetzen. Solche Beispiele finden wir auch in der Werbung, wie etwa im DZ BANK TV-Spot über „Leistungsfähigkeit“. Hier wird das Kintsugi-Narrativ verwendet, um an die Leistungsfähigkeit der Organisation zu appellieren.

Kintsugi vollzieht sich im Verborgenen

Kintsugi ist kein schneller Prozess - im Gegenteil, oft muss das Objekt „ruhen“. Es kommt für mehrere Tage in den Schrank. Erst nach dieser Pause kann der Kintsugi-Meister weiterarbeiten.
— Motoki Tonn

Die jahrhundertalte Kintsugi Tradition lädt uns ein, uns auf tiefere Veränderungsprozesse einzulassen. Dies geschieht in der alten Tradition der Teezeremonie – Brüche waren schon im 17. Jahrhundert Teil der japanischen Ästhetik und finden seit Kurzem im Westen Beachtung (hier ein Beitrag im National Geographic mit Bildern von Motoki @ Finde Zukunft).

Unser Drang nach Veränderung

In der heutigen Zeit wünschen wir uns Veränderung, am liebsten hätten wir sie in der Hand und “jetzt und sofort”.

Kintsugi zeigt uns, dass wir in tiefgreifenden Veränderungs- und Heilungsprozessen Geduld haben müssen. Wir wollen Veränderung herbeiführen und erkennen, dass wir in Momenten der Heilung nichts tun können.
— Motoki Tonn

Wenn wir Kintsugi auf unsere persönlichen Veränderungsprozesse anwenden, öffnet sich eine Tür zur Transzendenz:

Wir können uns selbst in dem Transformationsprozess der Restauration beobachten. Wir sehen uns in unserer eigenen Gestalt und werden uns bewusst, dass sich etwas mit uns und „an uns“ vollzieht. Dabei gibt es Phasen, an denen das Leben – und für manche Menschen auch eine höhere Macht – an uns arbeitet. Hier werden wir auch eingeladen, uns mit uns und unseren Erfahrungen von Zerbruch und Auseinandersetzungen zu beschäftigen.

Qualitäten des Kintsugi-Prozesses

Hier macht uns die Kintsugi-Kunst Mut. Die Qualitäten, die für den Kintsugi Transformationsprozess stehen, sind Sorgfalt, Achtsamkeit, Hingabe, Geduld und Liebe zum Detail. Kintsugi bleibt eine Kunst, jede Arbeit ist einzigartig. Der Kintsugi-Meister ist sich der Verantwortung gegenüber der Einzigartigkeit und der Zerbrechlichkeit des Wiederherstellungsprozesses bewusst. Wer sich in solchen Phasen in therapeutische Hände begibt, wünscht sich diese Kintsugi Qualitäten als Begleitung.

Kintsugi und Loslassen

„Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden!“, 2. Brief an die Korinther des Apostel Paulus.

Die neue Kintsugi Gestalt zieht uns in den Bann. Das Gold verfehlt seine Wirkung nicht. Zugleich dürfen wir die alte Gestalt noch erkennen. Sie ist erhalten geblieben und wird gewürdigt. Sie wird nicht vergessen oder zurückgelassen. Zugleich steht vor uns ein neues Kunstwerk. Unzählige Stunden sind in die Restauration des Gefäßes hinein geflossen. Der Kintsugi Meister hat sorgfältig die Stücke ausgewählt, die er für die Reparatur verwenden konnte. Dabei musste er auch auswählen, welche er nicht verwenden konnte. 

Bei unseren Dreharbeiten in Tokio konnten wir sehen, dass der Kintsugi-Meister bei weitem nicht alle Stücke für die Reparatur verwendet. Die Auswahl ist ein sehr mühsamer und sorgfältiger Prozess
— Motoki Tonn

Auch hier droht die Gefahr, dass wir aufgrund der äußeren Schönheit einer Kintsugi Gestalt den Blick für den tiefgreifenden Wiederherstellungsprozess verlieren. Nicht jedes Teil der ursprünglichen Form kann bei der Restauration wieder verwendet werden. Manches muss zurückbleiben. 

Auch wenn wir in der neuen Gestalt die alte Form wiedererkennen dürfen, so macht uns Kintsugi deutlich, dass das Alte vergangen ist. 

Das Hoffnungsvolle an Kintsugi ist: Wir stehen nicht mit leeren Händen da.

Zugleich ist Kintsugi auch eine Einladung zum Abschied nehmen.

 

Reflexionsfragen

Eine Einladung zur Reflexion:

  • Welche Veränderungen könnte mehr Raum gebrauchen?

  • Was könnte ich loslassen, um mehr Raum zu schaffen?

 

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