Kintsugi und die Kunst der Pause
Pausen und Stille finden in der Kintsugi Kunst
Vom Kintsugi-Handwerk können wir lernen, dass Ruhephasen wichtiger Bestandteil des Prozesses sind. Sie sind elementar für unsere Heilung und Wiederherstellung.
„Als wir unsere Kurzdokumentation in Japan drehten, war dies eine der größten Lehren für uns. Unsere gesamte Zeitrechnung war völlig falsch. Wir hatten gedacht, dass wir in zwei Wochen den Prozess gut darstellen könnten. Doch es gibt etliche Phasen wo das Gefäß, das repariert wird, für mehrere Tage in den Schrank wandern und einfach ruhen muss. Damit hatten wir nicht gerechnet. Hätte der Meister nicht ein sehr ähnliches Stück mit drei Modellen in drei unterschiedlichen Phasen vorbereitet, wäre der Film nichts geworden. Eine sehr eindrückliche Lernerfahrung, die uns Demut und Respekt lehrte.“ - Motoki Tonn.
Ma – die japanische Philosophie der Pause
Nirgendwo ist Ma so offensichtlich wie in Japan. Formen und ästhetische Werte sind tief in der Mentalität und in der Kultur Japans verwurzelt und zeigen sich im täglichen Leben. Entscheidungen werden sorgfältig durchdacht, selten überstürzt, Zeit und Raum für Kontemplation berücksichtigt – Intuition und Gefühl bestimmen oft das Ergebnis von Handlungen mehr als reine Logik und Argumente.
Ein alltägliches Beispiel für Ma ist die respektvolle japanische Verbeugung. Die Menschen machen am Ende der Verbeugung eine bewusste Pause, bevor sie sich wieder aufrichten - aus dem Grund, um sicherzustellen, dass genug "Ma" vorhanden ist, um Gefühle zu vermitteln.
Ein weiteres Beispiel ist die stille Pause im Gespräch. Die japanische Art der Kommunikation ist voller Leere., Themen von Sätzen werden oft ungesagt gelassen. Klare Worte sind nicht immer notwendig, eine intuitive Verständigung in einer stillen Pause gilt als sehr intelligent und anspruchsvoll. Dies steht im Gegensatz zu den direkteren westlichen Kommunikationsstandards, insbesondere in den USA, wo nichts für Spekulationen übrig bleiben sollte und Gespräche die "Unbeholfenheit" des Schweigens vermeiden.
“In Japan wird aufmerksames Zuhören und aufmerksames Beobachten sehr geschätzt – die Menschen sind Stille und Pausen mehr gewohnt, als wir, die Stille sogar als unangenehm im Alltag empfinden.” – Motoki Tonn
Stille wird als notwendig erachtet, um nachzudenken zu können und die Qualität einer Erfahrung zu spüren. Aufrichtige Gefühle lassen sich oft besser durch eine stille Mimik oder Geste ausdrücken.
Kintsugi und Ma
Heilung und Wiederherstellungsprozesse brauchen Zeit.
Wenn wir uns in akuter Behandlung befinden, wünschen wir uns häufig, dass unsere Genesung und unsere Rehabilitation schnell vonstatten geht. Je nach Beeinträchtigung, dauert der Heilungsprozess unterschiedlich lang: Muskeln wachsen schnell nach, Sehnen brauchen lange um wieder in Form zu kommen, Knochen und unser Stützapparat benötigen am längsten, wenn sie sich in Schieflage geraten sind. Noch viel länger benötigt unsere Seele, um heil zu werden.
Seelische Heilungsprozesse sind häufig nicht nur Wiederherstellungsprozesse. Viel zu gravierend können Einschnitte in unserem Leben sein. “Wir können nicht zweimal in den selben Fluss steigen” – panta rhei. Es sind die unsichtbaren Prozesse, die eine ganz besondere Aufmerksamkeit benötigen.
Hier können wir nur schwerlich etwas beschleunigen. Was uns in in diesen Zeiten helfen kann, ist ein Zug um Zug tieferes Öffnen für das, was unsere Aufmerksamkeit benötigt. Dabei können wir tiefe Erkenntnisse in der Unterbrechung und in der Stille erlangen.
Die Bedeutung von Ma
Um die Bedeutung des Wortes “Ma” zu verstehen, können wir auf die Zusammensetzung des japanischen Kanji-Symbols schauen:
Das Kanji Ma kombiniert “Tür” und “Sonne”, bzw. “Licht”.
Zusammen stellen diese beiden Zeichen eine Tür dar, durch deren Spalt das Sonnenlicht eindringt. Wir können diesen Spalt auch als Riss verstehen.
Durch die Öffnung wird Raum für Heilung, Veränderung und Wachstum geschaffen. Hinein fallen kann eine neue Perspektive, ein neuer Blickwinkel oder ein neuer Sinn. Davon handelt Ma: Ein Raum zwischen den Rändern, zwischen Anfang und Ende – ein Raum und eine Zeit, in der wir das Leben selbst erfahren.
Ma ist nicht leer; Ma ist mit Gefühl und Kraftvollem gefüllt. Ma ist paradox: Es ist ein Ort des Nicht-Geschehens – und zugleich ist Ma ein Ort der Transformation.
Kintsugi und Stille
In der Stille spüren wir uns selbst wieder. Die Stille fehlt uns nicht nur zur besseren Aufmerksamkeit für andere, sie vergisst uns auch und selbst besser zu spüren und unsere eigenen Bedürfnisse „zu hören“.
Wenn du eine Narbe am Körper trägst, konntest du beobachten, wie die Narben sich über die Jahre verändern. Das ist ein Prozess an der Oberfläche. Aber auch in uns finden Veränderungen statt: Unser Verhältnis zu den Narben und zu dem Auslöser, verändert sich.
Mit der Zeit und etwas Abstand treten neue Erkenntnisse zu Tage. Ruhe, Zeit und Reflexion helfen uns, diese Weisheiten zu bergen.
Welche Themen fragen nach mehr Zeit, Aufmerksamkeit oder Selbstfürsorge von Dir?
Was hörst du in der Stille?
Welche Perspektive eröffnet Ma im Sinne von “Tür und Sonne” für dich?