Das steckt wirklich hinter Ikigai, Shinrin Yoku und Kintsugi – ein Kommentar
Dies ist ein Kommentar zum Stern Artikel “Angebliche Lebensphilosophien aus Japan: Das steckt wirklich hinter Ikigai, Shinrin Yoku und Kintsugi”. Die Autorin Laura Hindelang und der Japanologe Christian Tagsold widmen sich den japanischen Philosophien Lebensphilosophien Ikigai (Was das Leben lebenswert macht), Kintsugi (Goldene Bande) und Shinrin-Yoku (Waldbaden). Der Kommentar stammt von Motoki Tonn.
IKIGAI: Erhöhung des japanischen BEGRIFFES
Die Autorin und Christian Tagsold beschreiben zu Recht, dass Ikigai in der westlichen Welt als Philosophie hochgehalten wird. Die Menge an Beiträgen, Geschäftsmodellen (z.B. Brand Agenturen) und Coach:innen, die sich auf “Ikigai” beziehen, ist enorm. Mehrere Millionen Beiträge sind mit dieser vermeintlichen Philosophie verbunden.
IKIGAI: Was die Autoren übersehen
Leider gelingt es der Autorin und dem Japanologen nicht, die wahre Bedeutung von Ikigai darzustellen. Weder historisch, noch etymologisch als auch von der gesellschaftlichen (soziologischen) Bedeutung.
Ikigai wird in der Literatur seit dem 14. Jahrhundert verwandt.
Die Bedeutung von Ikigai hat sich mit der Moderne verändert. War es früher deutlich mit der sozialen Rolle (im Kollektiv) verbunden, ist es heute eine persönliche Frage.
Grundlage der Ikigai-Forschung ist die Arbeit von Mieko Kamiya. Ihr Buch “Ikigai-ni-Tsuite” ist bis heute eine Grundlage sowohl für den gesellschaftlichen Trend als auch für die Wissenschaft. Sie bezog sich auf die Lehre Viktor Frankls und schlug Brücken zur Logotherapie. Ihr Buch löste Mitte der 60er Jahre einen kleinen “Hype” aus. Kürzlich widmete NHK, der einzige öffentlich-rechtliche und damit größte Fernsehsender Japans, Mieko Kamiyas Leben und Werk eine eigene Fernsehserie. Noch heute sind Bibliotheken nach Mieko Kamiya benannt, die ihre Arbeit über Ikigai als Ärztin würdigen. Mieko Kamiya hatte sich in ihrer Arbeit mit Leprakranken beschäftigt und auf die widrigen Umstände aufmerksam gemacht. Damals wurden Leprakranke in eigenen Kolonien untergebracht und lebten abgesondert von der Gesellschaft. Mieko Kamiyas Arbeit über Ikigai war ebenso wichtig wie ihre Übersetzungen der Werke von Marcus Aurelius, Michael Foucault und Virginia Wolf.
Ikigai ist ein geläufiges Wort in der japanischen Sprache, so wie andere “-gai” Wörter, die aufzeigen, dass eine Tätigkeit wertvoll ist. So etwa “hatarakigai”, der Wert der Arbeit. (Mehr dazu bei Dr. Yasuhiro Kotera, akademischer Leiter für Beratung, Psychotherapie und Psychologie an der Universität von Derby, Mitautor des Buches Ikigai: Towards a psychological understanding of a life worth living).
Ikigai ist heute Gegenstand von interdisziplinärer Forschung. Dabei spielen psychologische, philosophische, medizinische und soziologische Aspekte eine Rolle. Hierzu gibt es interdisziplinäre Forschungen an Universitäten in Tokio (Prof. Akihiro Hasegawa), Hong Kong (Prof. Gordon Matthews) und England (Dr. Dean Fido, Yasuhiro Kotera).
Die Autorin und der zitierte Experte übersehen leider die Tatsache, dass das vierkreisige Diagramm von André Zuzunaga stammt. Es stammt weder aus den 60er oder 70er Jahren, noch hat es ursprünglich mit Ikigai zu tun. Der Spanier Andrés Zuzunaga veröffentlichte das Diagramm unter dem Titel “Propósito” (“Zweck”) und war selbst von einfachen “Sinn-Diagrammen” inspiriert.
Andrés Zuzunaga dokumentiert dies auf seiner Webseite.
Auch andere Verwechslungen sind gut dokumentiert: Ausgelöst durch mehrere Blogposts, beginnend mit dem Beitrag “What is your Ikigai?” von Marc Winn im Mai 2014, wurde die Schablone von Andrés Zuzunaga immer häufiger mit “Ikigai” assoziiert.Unterstützt durch den Hype um die Frage der Langlebigkeit (“Blue Zones”) auf Okinawa kam es zu zwei Missverständnissen: Zum einen glaubten viele, dass Ikigai der Grund für die Langlebigkeit ist (er ist möglicherweise einer von vielen Gründen und Faktoren) sowie dass die vier-kreisige Schablone der japanischen Bedeutung von Ikigai gerecht werde.
DARSTELLUNG VON KINTSUGI
Auch bei der Kintsugi Kunst stellen die Autoren richtig dar, dass es zu einer Überhöhung der Handwerkskunst als Philosophie kommt. Kintsugi wird heute als Begriff für Mode, Romane und vielerlei Coaching-Angebote genutzt. Es gibt zahlreiche Kaufangebote für neues Kintsugi Geschirr, bei dem es nie einen Bruch gab.
Aber auch hier übersehen die Autoren die handwerkliche Tradition, die ihren Ursprung in China und später in Japan hat. Sie übersehen die Zusammenhänge zur Teezeremonie und die verschiedenen Tee- und Keramikschulen und die damit verbundenen Reparaturansätze, ebenso wie die Tatsache, dass Japan als Erdbebengebiet eine Tradition der Reparaturkunst hat, die sich auch auf Laien erstreckt und nicht nur Reichen vorbehalten war.
Leider sind auch die technischen Zusammenhänge nicht gut dargestellt: Zum einen ist der japanische Lack kein Klebstoff, zum anderen wird er nicht mit Gold vermischt. Der “Klebstoff” für die Kintsugi Reparatur entsteht durch Reismehl oder Weizenmehl.
Der Lack des Urushii-Baumes hat seine eigene Tradition in der Ausgestaltung japanischer Gefäße und muss mit Vorsicht verwendet werden, da er sehr giftig ist. Auf keinen Fall wird er mit Gold vermischt. Wenn Gold verwendet wird, wird es nachträglich aufgetragen. Tatsächlich wurde eine der ersten dokumentierten Kintsugi Reparaturen mit Nieten durchgeführt (Glasierte Teeschale, bekannt als "Bakohan", Tokyo National Museum)
Auch heute gibt es noch Kintsugi Meister (“Takumi”), etwa in Tokio und Kyoto, die ihre Lehren an Schüler:inne weitergeben.
ABSCHLIESSENDER KOMMENTAR
Ich entdecke immer wieder Veröffentlichungen, in denen sich Expert:innen zur japanischen Kultur äußern. Man merkt ihnen an, dass sie kaum in der japanischen Kultur aufgewachsen sind. Gleichzeitig findet eine gewisse “Aufarbeitung” dessen statt, was sie glauben in der japanischen Kultur entdeckt und verstanden zu haben. Dabei fallen schnell Worte wie “Esoterik” und andere Beschreibungen, die eindeutig negativ konnotiert sind.
Dabei fehlt mir der "Respekt" (japanisch "sonkei", 尊敬, übersetzt "Würde und Achtung") vor der alten und vielschichtigen Kultur. Mir persönlich fehlt irgendwie die Verbeugung, die auch ein Innehalten und Wahrnehmen des Gegenübers ist.
Ein Beispiel ist etwa die Veröffentlichungen im Deutschlandfunk über Marie Kondo, die ich inhaltlich an vielen Stellen teile, doch die Tonalität, angefangen bei der Headline des Beitrages, vermittelt für mich eine Stimme (Stimmung), die nicht von Respekt getragen ist. Das hinterlässt für mich als Mensch mit japanischer Prägung und journalistischer Leidenschaft einen seltsamen Beigeschmack. Dies gilt auch für die den Beitrag im Stern Magazin.
Hinzu kommen falsche Schreibweisen von “Shinrin Yoku” (“Shintin Yoku”), die die Distanz zur Kultur aufzeigen.
– Motoki Tonn