Scham – innere Narben verstehen und wandeln

Scham ist die „Aschenputtel unter den Gefühlen
— Dr. Stephan Marks
Im Gegensatz zu Freud glaube ich nicht, dass das Sexualität das wichtigste Element für die Komplexität des Verhaltens ist. Kälte, Hunger und die Scham der Armut beeinflussen eher die Psyche eines Menschen.
— Charlie Chaplin

Scham ist eine zutiefst menschliche Emotion – doch wir sprechen nur äußert selten über sie.
Sie ist älter als die Genesis Erzählung und brandaktuell.

Sie meidet das Licht und zieht sich ins Verborgene zurück.
Scham hält uns, die Beschämten, im Schatten.
Sie fürchtet nichts mehr als das Entdeckt-werden.

Scham ist wie Narben, die nach innen wachsen.
Unsichtbar und schwer zugänglich.

Doch was, wenn sie sich wandeln ließe?
Wenn gesunder Stolz das Gold wäre
und Empathie die Verbindung?

Dafür braucht es Mut und ein wenig Hoffnung,
dass sie weichen könnte, wenn sie ans Licht kommt,
diese toxische Scham.

"Ich trinke, um zu vergessen" heißt es im kleinen Prinzen
“Um was zu vergessen?”
“Um zu vergessen, dass ich mich schäme.”
“Weshalb schämst du dich?”
fragte der kleine Prinz, der den Wunsch hatte, ihm zu helfen.
“Weil ich trinke!”

Uns ist es ein Anliegen, dir einen wertschätzenden und zugleich fundierten Zugang zu dieser Emotion zu ermöglichen und dir vielleicht auch einen neuen Blick darauf zu eröffnen. Dabei helfen uns die Kintsugi-Metapher sowie die Forschungen vieler Wissenschaftler, die sich bereits intensiv mit Scham als Emotion und ihrer Wirkung auf uns persönlich sowie auf das Kollektiv auseinandergesetzt haben.

Scham aus wissenschaflicher Sicht

Aus wissenschaftlicher Sicht ist Scham eine komplexe Selbstbewusstseins-Emotion mit tiefen neurobiologischen Wurzeln. 

Der Evolutionspsychologe Paul Gilbert betont, dass Scham primär eine Bedrohungsreaktion darstellt – allerdings eine soziale: 

„Wenn wir uns schämen oder gedemütigt fühlen, sind diese Gefühle vor allem durch fehlende soziale Sicherheit geprägt“

Unser Gehirn reagiert bei Scham also ähnlich wie bei Gefahr: Herzklopfen, Hitze im Gesicht und der Impuls, sich verstecken zu wollen, sind typische körperliche Reaktionen. Neuropsychologisch betrachtet wird hierbei unser limbisches System (insbesondere die Amygdala als Alarmzentrum) aktiviert, während zugleich das sogenannte Ruhe- und Bindungssystem gehemmt wird. Wir geraten in einen Alarmzustand, weil Scham signalisiert: „Achtung, deine soziale Integrität ist bedroht!“

Shame-Forscher haben herausgefunden, dass Scham tatsächlich nur in Gegenwart (real oder vorgestellt) anderer Menschen entstehen kann. 

Scham ist eine zutiefst soziale Emotion. 

Gilbert beschreibt: „Scham, Verlegenheit, Demütigung – all diese Gefühle können nur im Kontext eines Gegenübers oder eines Publikums erlebt werden“

Das heißt, wir schämen uns, weil wir glauben, den Erwartungen unserer sozialen Gruppe nicht zu genügen, oder weil wir befürchten, negativ von anderen gesehen zu werden.

Sozialpsychologisch erfüllt Scham ursprünglich eine wichtige Funktion: 

Scham soll uns dabei helfen, uns an Normen zu halten und unser Zugehörigkeitsgefühl zu bewahren. 

In traditionellen Gemeinschaften wie auch im modernen Alltag wirkt Scham damit wie ein sozialer Kompass

Tatsächlich bezeichnet der Soziologe Dr. Stephan Marks Scham als „tabuisierte Emotion“ und zitiert etwa das jüdische Sprichwort: 

„Demütigung ist schlimmer als körperlicher Schmerz.“ 

Dieses drastische Bild unterstreicht, wie schmerzhaft soziale Beschämung erlebt wird – oft sogar als schwerer als physische Verletzung.

Aus traumatherapeutischer Sicht spielt Scham ebenfalls eine zentrale Rolle. Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben – etwa Missbrauchs- oder Gewalterfahrungen – entwickeln nicht selten tiefe Schamgefühle, selbst wenn sie objektiv unschuldig sind. In der Psychotraumatologie gilt: Traumata und Scham sind eng verwoben. 

Häufig übernehmen Betroffene unbewusst die „Schuld“ an dem Geschehenen und wenden sie gegen sich selbst, was zu chronischer Scham führen kann. Studien belegen diesen Zusammenhang: So fanden Feiring und Kolleg:innen (2002) bei Untersuchungen von Kindern und Jugendlichen mit Missbrauchserfahrungen, dass die Fähigkeit, das Erlebte zu verarbeiten, deutlich schlechter war, wenn das Kind intensive Scham empfindet und nicht verarbeiten kann

Scham wirkt wie ein Gift, das die Wunden eines Traumas weiter schwelen lässt. Außerdem haben langfristige Studien gezeigt, dass Scham bereits in der Kindheit häufig aus Demütigungen durch Bezugspersonen entsteht. Wird ein Kind also immer wieder beschämt, z.B. durch abwertende Kritik oder Liebesentzug, brennt sich Scham ins sich entwickelnde Selbst ein – und wird als traumatische Erfahrung abgespalten; es kommt zum Bruch

Dies erklärt, warum tiefsitzende Scham oft schwer zu lösen ist: Sie hat sich früh in neuronalen Mustern verankert und war vielleicht einst eine Überlebensreaktion, um mit unerträglichen Situationen umzugehen.

Wenn Scham zum Teufelskreis wird: der ungesunde Shame-Loop

Es ist nicht die Abhängigkeit, die uns in die Scham bringt, es ist die Scham, die uns in die Abhängigkeit bringt.
— Gabor Maté

Scham an sich mag eine sinnvolle Emotion sein – doch toxische Scham ist etwas anderes. Von toxischer oder verdeckter Scham sprechen wir, wenn Scham chronisch wird und unser Selbstwertgefühl „vergiftet“. Dann drehen wir uns in einem regelrechten Shame-Loop: negative Erfahrungen führen zu Scham, die Scham führt zu negativen Gedanken über uns selbst, die wiederum noch mehr Scham erzeugen. Dieser Kreislauf kann verheerende Folgen haben. Die Psychologen Cheung, Gilbert und Irons fanden etwa, dass Schamgefühle eine hartnäckige „Klebrigkeit“ besitzen – sie ziehen uns immer wieder in Grübeleien und Selbstabwertung hinein. Man könnte sagen: 

Scham neigt dazu, sich selbst am Leben zu erhalten. Wir fühlen uns schlecht, ziehen uns zurück, spielen vielleicht vor anderen eine Fassade vor, während innerlich die abwertenden Gedanken kreisen. Diese Tendenz zur Isolation und zum Rückzug verstärkt Scham wiederum, und so dreht sich die Spirale weiter.

Ungesunder, toxischer Scham 

John Bradshaw, der den Begriff “toxic shame” (giftiger Scham) prägte, beschreibt eindrücklich, wie sich Scham über die Jahre im Menschen anreichern kann. Jede neue beschämende Erfahrung baut auf früheren auf – „wie ein Schneeball, der den Hügel hinunterrollt und immer größer wird“, bis Scham schließlich „wie eingefroren im Kern der Identität sitzt

In diesem Zustand fühlt sich der Mensch von Scham durchdrungen: Man glaubt, als Person falsch und wertlos zu sein. 

Bradshaw schreibt, dass im Endstadium „nichts an dir mehr in Ordnung ist. Du fühlst dich fehlerhaft und minderwertig… Du bist dir selbst ein Objekt der Verachtung“. Diese innere Überzeugung, unwürdig zu sein, ist wie ein ständiger Schatten. Sie erzeugt intensives Selbstbewusstsein im negativen Sinn – man beobachtet und verurteilt sich unbarmherzig selbst. Psychologe Gershen Kaufman nannte dieses Phänomen einen „bindenden und lähmenden Effekt auf das Selbst“. 

Tatsächlich berichten Menschen mit toxischer Scham oft von einer Art innerer Starre: 

  • Man wagt nichts mehr, 

  • zieht sich von sozialen Kontakten zurück (Isolation) oder öffnet sich weniger und 

  • im Inneren herrscht eine Form von Hoffnungslosigkeit, dass sich dieser Zustand nicht bessern wird.

Nicht selten resultiert daraus eine chronische, depressive Niedergeschlagenheit – ein leises und doch stetes Traurigsein darüber, dass man sich selbst in der Punkt der Beschämung als verloren empfindet.

Im bildlichen Sinne meidet Scham das Licht. Verdeckte Scham führt ein Schattendasein, sie bleibt im Verborgenen weil wir uns sogar dafür schämen, uns zu schämen. Also sprechen wir nicht darüber und bleiben in der Isolation. 

Die Ausweichmechanismen sind vielfältig:

  • Wir versuchen besonders gut oder gar perfekt zu wirken,

  • wir beschwichtigen Anfragen, wie es uns wirklich geht, um bloß keine Blöße zu zeigen oder reagieren sogar mit Abwehrmechanismen.

Die Wahrung der äußeren Hülle und dieses abwehrende oder beschwichtigende Verhalten ist für uns selbst am anstrengendsten und führt zu einer inneren Anspannung. Doch nicht immer bleibt dies unbemerkt – Menschen erleben uns als unauthentisch, auch wenn sie nicht genau sagen können, woran es liegt.

Der Umgang mit dieser Anspannung

In der Folge fangen wir an, uns abzulenken oder gehen ungesundem Verhalten nach, was auch zu suchthaften oder zwanghaftem Verhalten führen kann, um das nagende Schamgefühl nicht zu spüren. Doch diese Strategien verstärken den Teufelskreis langfristig nur. Eine weitere Form der Schamabwehr ist Wut oder Aggression: Manche Menschen reagieren auf beschämende Situationen mit Trotz, Ärger oder indem sie andere kleinmachen – eine Art Flucht nach vorn, um die eigene Scham zu verdecken. Dieser Mechanismus kann bis in Persönlichkeitsstörungen führen, wo grandioses Auftreten oder chronisches Abwerten anderer eigentlich ein empfindliches, beschämtes Selbst verbirgt.

Scham beginnt schon im Kindes- und Jugendalter

Psychologische Studien untermauern, wie zerstörerisch der Scham-Teufelskreis sein kann. Eine Langzeituntersuchung von Stuewig & McCloskey (2005) begleitete Kinder über acht Jahre und fand heraus: Kinder, die häufig Beschämung und Ablehnung durch ihre Eltern erfahren hatten, entwickelten mit höherer Wahrscheinlichkeit anhaltende Schamgefühle und daraus resultierende Probleme in der Adoleszenz. Scham und Selbstabwertung wirken also wie ein sich selbst verstärkendes Muster, das von Generation zu Generation weitergegeben werden kann, wenn es nicht durchbrochen wird (transgenerationale Scham). Die amerikanische Psychologin June Tangney bezeichnet Scham und Schuld als „transdiagnostische“ Faktoren – das heißt, sie spielen bei sehr vielen psychischen Störungen eine Rolle, von Angst über Essstörungen bis zu Sucht. Starke Schamneigung erhöht die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen und erschwert gleichzeitig die Heilung.

Selbstkritik und fehlende Selbstwärme – wenn das innere Urteil gnadenlos wird

Warum fällt es manchen von uns so schwer, aus dem Schamkreis auszubrechen? Ein Schlüssel dazu liegt in unserer inneren Einstellung zu uns selbst. Menschen mit hoher Schamneigung erleben einen oder mehrere ausgeprägte innere Kritiker, wenig Selbstwärme (Selbstmitgefühl) und in der Konsequenz ein verringertes Selbstwertgefühl. Unter Selbstwärme verstehen wir freundliche, mitfühlende Gefühle uns selbst gegenüber – das Gegenteil von Selbstverurteilung. Wir sprechen häufig sehr kritisch mit uns selbst – die Praxis des Selbstmitgefühlt lädt uns ein, mit uns zu sprechen, wie mit einem guten Freund oder einer guten Freundin.

Wer sich tief schämt, dem fehlt meist genau diese innere Wärme. Stattdessen tobt im Inneren ein strenges Tribunal: „Wie konntest du nur? Du bist lächerlich. Anderen passiert so etwas nicht…“ – Solche selbstkritischen Gedanken sind wie Pfeile, die das bereits geringe Selbstwertgefühl weiter verringern.

Scham und Selbstkritik

Die Forschung bestätigt den engen Zusammenhang zwischen Scham und Selbstkritik. Psychologe Paul Gilbert fand heraus, dass Schamanfälligkeit und Selbstabwertung Hand in Hand gehen. Je mehr wir dazu neigen, uns selbst als Person abzulehnen, desto häufiger und intensiver empfinden wir Scham. Dies 

Diese beiden Faktoren durchdringen viele Störungsbilder und erhöhen unter anderem das Risiko für Rückfälle oder gar eine Verstärkung der (Eigen-)Beschämung. 

Selbstkritik kann dabei paradoxerweise als eine Art (fehlgeleitete) Strategie dienen: 

Wir glauben unbewusst, wenn wir uns nur hart genug mit uns umgehen, uns etwa für unsere Fehler bestrafen (“streng dich mehr an”, “geh’ eine Extrameile”), würden wir bessere Menschen

Gilbert nennt das das „good–bad self“-Paradoxon

„Ich muss ja irgendwo gut sein – wenigstens darin, meine eigenen Fehler zu erkennen. Würde ich mich nicht kritisieren, wäre ich wirklich schlecht.“. Dieser paradoxe Glaubenssatz hält uns in der Selbstverurteilung gefangen. In Wahrheit unterminiert ständige Selbstkritik aber unsere Fähigkeit, zu lernen und uns zu verbessern. Wir drehen uns in Schuldgefühlen, anstatt konstruktiv nach vorne zu schauen.

Die Ursachen fehlender Selbstfreundlichkeit

Fehlende Selbstfreundlichkeit hat oft biografische Gründe. Viele Menschen mit chronischer Scham berichten, dass ihnen in der Kindheit wenig liebevolle Bestätigung geschenkt wurde. Vielleicht erfuhren sie Zuneigung nur, wenn sie „brav“ oder erfolgreich waren, und wurden bei Fehlern beschämt. Mit der Zeit übernimmt das Kind diese Haltung sich selbst gegenüber.

Unser Gehirn lernt: „Ich darf keine Schwäche zeigen”, “... kennen keinen Schmerz” oder im Japanischen den Ausdruck “Ganbatte”, im Englischen “Get yourself together” (“reiss dich zusammen”). Wenn doch, verdiene ich Tadel (“ein wenig Tadel hat noch niemand geschadet”) – auch von mir selbst. 

 So entwickeln wir keinen mitfühlenden inneren Dialog. Gilbert erklärt, dass die Fähigkeit zu Selbstmitgefühl bei manchen von uns regelrecht unterentwickelt bleibt, weil wir so sehr damit beschäftigt waren, uns zu verteidigen und zu schützen

Wenn das Gehirn im ständigen Alarmmodus ist (im sogenannten Threat-System), erscheint der Zugang zu warmen Gefühlen uns selbst gegenüber schwer oder sogar beängstigend -” das kann ich doch nicht zulassen”. 

In der Tat erleben viele Hoch-Scham-Persönlichkeiten Momente von Selbstakzeptanz fast als „unwirklich“ oder bedrohlich – „es fühlt sich komisch an, so milde mit mir zu sein“

Ein Teilnehmer berichtete es so: es sei, als fühle er sich „nackt“, wenn er aufhörte, sich selbst anzugreifen. Der vertraute Panzer der Selbstkritik mag weh tun, gibt aber vermeintlich Sicherheit und Identität.

Doch dieses innere Tribunal hat bittere Konsequenzen. Wir entziehen uns die seelische Wärme, die wir so dringend bräuchten. Ohne Selbstmitgefühl bleibt Scham im Dunkeln. Wenn niemand da ist – nicht einmal wir selbst – der uns in unserer Unvollkommenheit annimmt, wie sollen wir da unsere Scham heilen? 

Deshalb sagen Therapeut:innen oft: Die Medizin gegen toxische Scham heißt Selbstmitgefühl – anstatt mit sich selbst härter umzugehen, als mit der umwelt ist es eher die Idee, sich selbst ein guter Freund:in zu sein

Bevor wir dazu kommen, wie diese Medizin wirkt, schauen wir zunächst noch auf die andere Seite der Scham: Gibt es auch gesunde Scham? Und was hat es mit Demut und Stolz auf sich?

Die positive Seite der Scham: sozialer Klebstoff für Demut, Verbindung und Verantwortung

Angesichts all der Schmerzen, die Scham verursachen kann, überrascht es vielleicht: Scham hat auch positive Funktionen. In dosierter, „normaler“ Form wirkt Scham wie sozialer Klebstoff, der unsere Gemeinschaft zusammenhält. Evolutionär betrachtet entwickelten wir Scham und Schuldgefühle, um unser Zusammenleben zu regulieren. Wie es in einem Fachtext heißt: „Scham und Schuld sind biologisch sinnvolle Gefühle, die das friedliche Miteinander einer Gemeinschaft schützen.“. Scham alarmiert uns, wenn wir Normen oder Erwartungen verletzt haben und dadurch unsere Zugehörigkeit zur Gruppe gefährdet ist. 

Dieses Alarmgefühl ist unangenehm, ja – aber es kann uns motivieren, unser Verhalten zu reflektieren und gegebenenfalls zu ändern, um wieder in Einklang mit der Gemeinschaft zu kommen. In diesem Sinne führt Scham zu Demut: Wir erkennen an, dass wir fehlbar sind, und gestehen uns unsere Grenzen ein. Ein gesunder Schamimpuls verhindert, dass wir rücksichtslos oder größenwahnsinnig handeln, weil er uns spüren lässt, wenn wir anderen Unrecht getan haben oder über die Stränge schlagen.

Wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen Scham und Schuld. Während Scham sagt „Ich bin falsch“, sagt Schuld „Ich habe etwas Falsches getan.“ Scham bezieht sich also auf unser Sein, Schuld auf unser Handeln. Beide Emotionen überschneiden sich und werden oft zusammen empfunden - wir werden schuldig an jemanden und empfinden Scham über unser Handeln (oder auch Nichthandeln). 

Doch Schuld hat eine konstruktive Seite, sie kann uns zur Wiedergutmachung motivieren, sie ist häufig konkret an ein Verhalten gekoppelt kann uns im besten Fall zur Wiedergutmachung oder zur Versöhnung motivieren. Auch auf der anderen Seite kann sie Prozesse zur Vergebung und Versöhnung auslösen (was nicht micht vergessen oder gut-heißen gleichzusetzen ist).

Gesunde Scham bei Schulderleben 

Allerdings gibt es auch so etwas wie „gesunde Scham“ im Gewissenssinn, eine Art moralische Scham oder Beschämung, die uns zur Einsicht bringt: „Das war falsch, das möchte ich künftig anders machen.“. Diese Form der Scham ist eng verwandt mit Reue und Verantwortungsgefühl. Sie führt idealerweise dazu, dass wir uns entschuldigen, Verantwortung übernehmen und Verfehlungen korrigieren. 

In diesem Fall ist Scham kurzfristig schmerzhaft, aber langfristig heilsam für Beziehungen und Gemeinschaft. Sie erinnert uns an unsere Werte und an den Respekt vor anderen.

Man kann also sagen: 

Ein bisschen Scham tut uns gut. 

Sie macht uns menschlich, sie macht uns unsere Grenzen bewusst und lehrt uns Demut (mittelhochdeutsch dēmu(o)t, althochdeutsch diemuotī, zu: diomuoti = demütig, dionōn (dienen) und muoti (Mut), also eigentlich = Gesinnung eines Dienenden).

Wer gar keine Scham kennt, zeigt oft antisoziale Tendenzen – extreme Beispiele wären psychopathische Persönlichkeiten, die keinerlei Beschämung oder Gewissensbisse empfinden. Solche Menschen (man denke an so manches Weltgeschehen) können lügen, betrügen oder verletzen, ohne rot zu werden, weil ihnen der soziale Klebstoff fehlt, der uns signalisiert: „Stopp, das geht zu weit – du würdest die Verbundenheit mit anderen gefährden.“ 

In der richtigen Dosis fördert Scham Verbundenheit. Sie ist die andere Seite von Empathie: Wir schämen uns, wenn wir glauben, andere durch unser Sein oder Verhalten zu enttäuschen. Damit zeigt Scham auch, wie wichtig uns andere sind. Wenn wir beispielsweise aus dem Affekt heraus eine nicht angemessene Bemerkung gegenüber einem guten Freund oder einer Kollegin machen, dann spüren wir womöglich kurz darauf Scham oder Beschämung – gerade weil uns die Freundschaft oder Beziehung am Herzen liegt. 

Scham schützt uns vor Hochmut 

In der Sozialpsychologie wird Scham als „moralischer Emotions-Kompass“ beschrieben. Sie hält unseren inneren Hochmut in Schach. Passenderweise betitelt der Soziologe und Schamforscher Dr. Stephan Marks ein Kapitel aber mit „Hochmut kommt nach dem Fall“. Was meint er damit? Wenn wir tief gefallen sind – etwa durch eine beschämende Erfahrung – haben wir die Chance, echten Anstand und Demut zu entwickeln. Dieser gesunde Stolz nach dem Fall unterscheidet sich fundamental von arrogantem Hochmut. 

Wer demütig aus einer Schamerfahrung lernt, strahlt hinterher oft eine neue Integrität aus: ein stilles Selbstbewusstsein, das aus der bewältigten Krise gewachsen ist. Das ist die positive Verwandlung, die Scham ermöglichen kann.

Gesunder Stolz als Ausweg: Authentischer vs. defensiver Stolz

Scham und Stolz sind wie zwei Seiten einer Medaille. Wo Scham uns klein macht, kann Stolz uns aufrichten. Doch nicht jeder Stolz ist gesund. Psycholog:innen unterscheiden authentischen (gesunden) Stolz von hybrischem (überheblichen) Stolz. Die Forschungsarbeiten von Dr. Jessica Tracy sind hier wegweisend: 

Sie zeigen, dass Menschen intuitiv zwei Formen von Stolz kennen. Befragt man Personen nach Worten, die mit Stolz verbunden sind, nennen sie zwei ganz verschiedene Kategorien von Begriffe: 

Die eine Kategorie – authentischer Stolz – umfasst Wörter wie „erfüllt“, „kompetent“, „selbstsicher“. Diese Form des Stolzes ist prosozial und basiert auf realen Leistungen oder Wachstum; sie geht oft einher mit Bescheidenheit und Dankbarkeit. Die andere Kategorie – hybrischer Stolz – ergibt Wörter wie „arrogant“, „eingebildet“

Dieser Stolz ist egozentrisch, aufgeblasen und wird als unverdient oder defensiv wahrgenommen. Menschen voller hybrischem Stolz neigen dazu, ihre Unsicherheiten durch Großtun zu kaschieren. Es ist der Stolz, der auf andere herabschaut, um sich selbst größer zu fühlen.

Empirische Studien bestätigen, dass authentischer und hybrischer Stolz unterschiedliche Auswirkungen und sogar Persönlichkeitsprofile haben. Authentischer Stolz korreliert positiv mit sozial erwünschten Eigenschaften wie Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, emotionaler Stabilität – und interessanterweise auch mit Bescheidenheit. Wer echten Stolz empfindet, kann zugleich demütig bleiben und ist oft bereit, andere zu unterstützen. Hybrischer Stolz dagegen zeigt Zusammenhänge mit antisozialen Tendenzen: Personen mit überhöhtem Stolz sind oft unverträglicher, aggressiver und neigen vermehrt zu impulsivem oder sogar unethischem Verhalten. Nicht überraschend steht hybrischer Stolz auch in Verbindung mit Narzissmus und Manipulation.

Was bedeutet das für den „Weg aus der Scham“? Paul Gilbert betont, dass der Aufbau von gesunder Selbstachtung und Stolz ein wichtiger Schritt ist, um chronische Scham zu überwinden. Allerdings meint Gilbert mit Stolz nie arrogante Selbstüberhöhung, sondern ein gefestigtes Gefühl für den eigenen Wert – ohne dabei die Bodenhaftung zu verlieren. Im Grunde spricht er von Würde. Eine Person, die ihre Würde erkennt, kann stolz auf sich sein im Sinne von „Ich bin okay, so wie ich bin, mit all meinen Fehlern und Stärken.“ Das ist weit entfernt von „Ich bin besser als alle anderen“ (Hybris). Tatsächlich ist gesunder Stolz meist mit Verwundbarkeit verbunden: Wir kennen unsere Narben, aber wir schämen uns nicht mehr dafür. Wir können zu ihnen stehen. 

Genau hier knüpft unsere Kintsugi-Metapher an: Sie lehrt uns, wie wir durch die bewusste Annahme unserer Bruchstellen zu neuem, integren Stolz finden können.


IKIGAI-Übungen: Gesunder Stolz als heilsame Kraft

Nimm dir ein Blatt Papier oder dein Journal zur Hand. Schreibe ohne Anspruch auf Perfektion – eher wie ein Fluss: intuitiv, offen, aus der Bewegung heraus. Es geht nicht um Richtig oder Falsch – die Einladung ist aus einem “Fluss” heraus zu schreiben (expressives Schreiben, Journaling).

1. Alltägliche Ebene – das stille Tun

  • Welche kleinen, scheinbar unscheinbaren Dinge tust du regelmäßig, auf die du stolz sein darfst?
    Vielleicht stehst du jeden Morgen aufs Neue auf, schmierst Pausenbrote, hörst aufmerksam zu, meldest dich bei Freund:innen – auch wenn es dir schwerfällt oder du es gerade eilig hast.
    Vielleicht ist es ein Moment des Innehaltens – oder dein Mut, etwas durchzuziehen, ohne dass jemand zuschaut.

2. Innere Ebene – Entscheidungen, Haltung, Gegenwart

  • Entscheidungen:
    Wo hast du in den letzten Tagen bewusst „Nein“ gesagt – vielleicht zu etwas, das dir nicht guttut? Wo hast du eine Grenze gezogen oder für dich selbst eingestanden?

  • Im Hier und Jetzt sein:
    Wann warst du ganz präsent – für dich selbst, für einen anderen Menschen, in einem Gespräch, in einer kleinen Geste?

  • Zukunft gestalten:
    Welche Entscheidung hast du getroffen, die deiner inneren Überzeugung folgte? Wo hast du deinem Leben eine Richtung gegeben, die deinen Werten entspricht?

  • Loslassen:
    Was hast du losgelassen – sei es ein Gedanke, ein innerer Anspruch oder ein Urteil über dich selbst?

  • Zulassen:
    Was hast du neu in dein Leben eingeladen – vielleicht ein Gefühl, einen Kontakt, eine andere Perspektive?

  • Akzeptanz:
    Welche Erfahrung, die unangenehm war, hast du angenommen – nicht verdrängt, nicht wegerklärt? Auch das verdient Anerkennung.

  • Räume der Reflexion
    Wo hast du dir Zeit genommen, für eine innere Reflexion, eine erneute Auseinandersetzung mit etwas, was dich bewegt hat?


3. Identitäre Ebene – das Sein

  • Was weißt du heute über dich – im Ganzen – das dich ruhig und wahrhaft stolz macht? Was würdest du deinem jüngeren Ich heute sagen?

  • Was würdest du deinem zukünftigen ich heute als Ermutigung für morgen schreiben?
    Wenn du dich im Spiegel betrachtest:
    Was kannst du sehen, annehmen – vielleicht sogar mit Milde und Stolz betrachten?
    („Loslassen und radikale Selbstannahme liegen nah beieinander.“ – Ken Mogi)

Weitere Journaling Fragen findest du in unseren E-Books in unserem Shop.

Kintsugi: Aus inneren Narben wird Gold

In der japanischen Kunst des Kintsugi werden zerbrochene Keramikstücke mit Goldlack wieder zusammengesetzt. Die Bruchstellen leuchten hinterher golden – aus der Verletzung ist etwas Schönes entstanden.

Die Metapher des Kintsugi liefert ein kraftvolles Bild für den Umgang mit Scham und inneren Narben. Stellen wir uns unsere Seele wie eine kostbare Keramikschale vor. Im Laufe des Lebens entstehen Risse – durch Verletzungen, durch Schuld, durch Scham. Manch einer versucht, diese Risse zu verstecken oder so zu tun, als wäre nichts zerbrochen. Aber was, wenn wir einen anderen Weg wählen? Japanische Kunst- und Keramikmeister entwickelten (inspiriert durch chinesische Vorläufer) die Kintsugi-Technik (金継ぎ, wörtlich „Goldverbindung“), bei der zerbrochene Keramiken nicht weggeworfen, sondern mit einem starken Harz repariert werden. Die Bruchstellen werden am Ende des Prozesses sichtbar durch Gold gemacht. Aus dem vormals makellosen Gefäß wird ein Unikat mit Geschichte: Die Linien der Reparatur verleihen ihm einen neuen Charakter und erhöhen sogar seinen Wert, denn nun erzählt es eine Geschichte von Wiederherstellung und Transformation.

Übertragen auf uns Menschen bedeutet Kintsugi: Unsere seelischen Brüche und Schamnarben müssen nicht das Ende bedeuten. Wir können sie verwandeln und integrieren. Die „Goldfüllung“, die die Risse veredelt, ist in unserem Kontext bewusste Annahme und achtsames Selbstmitgefühl. Anstatt unsere beschämten Anteile für immer abzuspalten oder zu verstecken, können wir sie ans Licht holen, behutsam reinigen und mit Mitgefühl umhüllen – so wie der Kunsthandwerker die Bruchstücke säubert und mit Lack bestreicht. Dieser Prozess erfordert Geduld und Liebe zum Detail: im therapeutischen Sinne das langsame, achtsame Hinwenden zu den wunden Punkten in uns. Vielleicht ist da das innere Kind, das sich einst unendlich geschämt hat und bis heute verletzt ist. Oder ein Anteil in uns trägt große Schuldgefühle für etwas in der Vergangenheit. Kintsugi heißt, diesen inneren Anteilen zuzuhören und sie nach und nach in unsere Persönlichkeit zurückzuholen. Integration statt Verleugnung.

Die goldene Farbe im Kintsugi steht sinnbildlich dafür, dass die ehemals beschämenden Teile unserer Selbst eine neue Bedeutung bekommen können. Diese Übung nennen wir unseren Kursen den “einzigartigen, unfairen Vorteil”.  Aus Schwächen werden durch diese Transformation sogar individuelle Stärken. Das kann eine früherre Demütigungen gewesen sein, aus der wir eine besondere Sensibilität entwickelt haben.

In der Würdigung unserer Brüche liegt der wichtige Schritt der Akzeptanz. Daraus kann ein neues Selbstgewahrsein und Selbstwertgefühl entstehen: 

Ja, ich bin verletzt worden (und habe selbst auch andere verletzt), ja auch ich habe Fehler (gemacht) und bin nicht ohne Ecken und Kanten, und ja, auch ich habe so manche Narbe an mir  – aber genau diese machen mich zu dem Menschen, der ich bin, und ich trage sie mit Stolz und Mitgefühl.

Der KINTSUGI-Weg: Kindness, Investigation, Notice, Touch, Silence, Gold, Intention

Wie können wir ganz konkret unsere Scham in Gold verwandeln? Ein möglicher Leitfaden ist das KINTSUGI-Akronym, bei dem jede Buchstabe für einen Schritt auf dem Erfahrungsweg steht: Kindness, Investigation, Notice, Touch, Silence, Gold, Intention. Diese englischen Begriffe lassen sich folgendermaßen erläutern:

  • K – Kindness (Güte): Sei gütig mit dir selbst. Der erste Schritt besteht darin, bewusst eine Haltung freundlicher Warmherzigkeit einzunehmen – gegenüber den eigenen Gefühlen, auch den unangenehmen. So wie man ein verletztes Kind tröstet, können wir versuchen, uns innerlich mit wohlwollenden Worten anzusprechen. Kindness bedeutet, das harte Urteil durch Verständnis zu ersetzen: „Ich habe mein Bestes getan unter den Umständen“, „Es ist menschlich, Fehler zu machen“. Diese Selbst-Güte ist der Grundlagenton, der alle weiteren Schritte begleitet.

  • I – Investigation (Erforschung): Erforsche deine Scham mit neugierigem Geist. Statt vor der Scham wegzulaufen, treten wir einen Schritt zurück und schauen sie uns genauer an. Wo kommt dieses Gefühl her? Welche Situationen lösen es aus? Welche Gedanken und Überzeugungen sind damit verknüpft? In dieser Phase geht es um achtsames Erkunden der eigenen Schamgeschichte. Vielleicht schreibt man in einem Tagebuch darüber oder spricht mit einer vertrauensvollen Person. Wichtig ist, eine forschende Haltung einzunehmen – nicht wertend, sondern interessiert und mutig. Wir behandeln unsere Emotion wie einen Gast, dem wir Fragen stellen, um ihn zu verstehen.

  • N – Notice (Gewahrsein): Nimm den Moment bewusst wahr. Während wir untersuchen, was in uns vorgeht, hilft es, immer wieder ins Hier-und-Jetzt-Gewahrsein zurückzukehren. Notice meint, zu bemerken was gerade geschieht – im Körper (z.B. Herzklopfen, Enge im Hals), in den Gedanken, in den Impulsen. Anstatt im Kopfkino der beschämenden Erinnerung zu versinken, üben wir, die Erfahrung im aktuellen Moment zu halten: „Jetzt gerade sitze ich hier, und ja, da ist Scham in mir; ich spüre sie als heiße Welle in meinem Brustkorb.“ Durch dieses benennende Gewahrsein schaffen wir etwas Abstand zu überwältigenden Gefühlen. Oft hilft es, ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen und z.B. innerlich zu sagen: „Ich bemerke, da ist Scham.“ Das nimmt dem Gefühl etwas von seiner Macht.

  • T – Touch (Berührung): Berühre dich selbst tröstend. Der vierte Schritt nutzt die Weisheit des Körpers: heilende Berührung. Studien haben gezeigt, dass liebevolle Berührung das Nervensystem beruhigen kann. Wir können eine Hand sanft auf unser Herz oder unseren Bauch legen – irgendwohin, wo es sich tröstlich anfühlt. Diese Geste mag simpel erscheinen, hat aber oft eine erstaunliche Wirkung. Sie sendet unserem Gehirn das Signal: Du bist nicht allein, ich bin für dich da. In Kursen für Selbstmitgefühl nach Kristin Neff wird diese Übung häufig angewandt, weil sie unmittelbar das Gefühl von Wärme und Geborgenheit in uns wecken kann. Berührung kann auch symbolisch verstanden werden: Wir „fassen“ unser Problem an, wir treten in Kontakt damit, statt uns davon abzuschneiden.

  • S – Silence (Stille): Begib dich in die Stille. In einer Welt voller Ablenkung braucht Heilung die Kraft der Ruhe. Stille bedeutet hier, sich bewusst Zeiten der Einkehr zu nehmen – in Meditation, im Gebet, in der Natur oder einfach in einem stillen Raum. In der Stille können die vorherigen Schritte nachwirken. Wir sitzen mit uns selbst, ohne vor uns wegzulaufen. Diese Phase verlangt Geduld. Alte Schamgefühle tauchen vielleicht auf, wenn es ruhig wird, aber nun haben wir bereits Freundlichkeit, Neugier, Gewahrsein und Berührung geübt – wir sind also besser gerüstet, um mit dem zu sein, was auftaucht. Die Stille ermöglicht es auch, tieferen Einsichten Raum zu geben. Manchmal erkennen wir in solchen Momenten etwas Essentielles: zum Beispiel, dass das, wofür wir uns zeitlebens schämten, vielleicht gar nicht unsere Schuld war, oder dass uns längst vergeben wurde – nur wir selbst hielten noch an der Scham fest.

  • G – Gold (Gold): Finde das Gold in der Erfahrung. Hier kommt der eigentliche Transformationsmoment: Wir entdecken einen Wert in dem, was zerbrochen war. Was könnte das „Gold“ sein, mit dem du deine Narbe versiehst? Vielleicht ist es Vergebung – dir selbst oder anderen. Vielleicht ist es Lernen – eine Lektion, die dich reifer gemacht hat. Oder Mitgefühl – du hast durch eigenes Leid die Fähigkeit gewonnen, andere besser zu verstehen. Das Gold steht auch für Annahme: die bewusste Entscheidung, deine Vergangenheit und deine Makel als Teil deiner Identität anzuerkennen, und zwar ohne dich dafür fertigzumachen. Hier geht es nicht um Schönfärberei – wir leugnen nicht, dass etwas zerbrochen ist, aber wir würdigen es. Eine hilfreiche Frage kann sein: “Welche Stärke habe ich daraus entwickelt?“ oder „Wofür kann ich dankbar sein, trotz (oder wegen) dieser Erfahrung?“ Das klingt manchmal erst unmöglich, doch viele, die durch tiefe Scham gegangen sind, berichten im Nachhinein von einem „Goldkern“ an Erkenntnis, den sie daraus mitnehmen konnten.

  • I – Intention (Intention): Setze eine Absicht für die Zukunft. Der letzte Buchstabe lädt uns ein, mit Entschlossenheit nach vorn zu schauen. Welche Intention möchtest du aus all dem ableiten? Vielleicht die Absicht, liebevoller mit dir selbst umzugehen. Oder anderen Menschen zu helfen, die Ähnliches durchmachen. Oder einfach, authentisch zu leben, ohne dich länger hinter Masken zu verstecken. Intention gibt die Richtung vor: Sie ist der Kitt, der das Gold und die Keramik dauerhaft zusammenhält. Im Kintsugi wäre dies vergleichbar mit dem Aushärten des Lackes – die Entscheidung, als „neues Gefäß“ in die Welt zu treten. Im praktischen Leben können Rituale oder Symbole helfen, die Intention zu verankern: Man könnte einen Brief an sich selbst schreiben und verbrannte Erde zu Gold erklären, oder ein kleines goldenes Objekt bei sich tragen als Erinnerung an den Entschluss, die eigene Würde nie wieder zu verraten.

Durch diese sieben Schritte – Güte, Erforschung, Gewahrsein, Berührung, Stille, Vergoldung, Absicht – skizziert das KINTSUGI-Akronym einen Erfahrungsweg, der aus der Tiefe der Scham herausführt. Es ist kein linearer „1-2-3-Fertig“-Prozess, sondern eher ein spiralförmiger Pfad: Manchen Schritt gehen wir öfter, manche laufen parallel. Wichtig ist, dass wir uns selbst auf diesem Weg nicht drängen, sondern ihn in achtsamer Selbstbegleitung beschreiten.

Mit Achtsamkeit und Selbstmitgefühl: Scham heilen in der Praxis

Theorie und Metaphern sind hilfreich – aber wie setzen wir diesen Wandel praktisch um, insbesondere in Coaching- oder Gruppensettings? Zunächst gilt es, realistische Erwartungen zu haben. Prof. Paul Gilbert betont, dass der Pfad zu Selbstmitgefühl gerade für traumatisierte Menschen kein leichter ist: 

„Der Weg zum Selbstmitgefühl kann für Menschen mit Trauma einer sein, der durch Schmerz und Kummer führt. Es ist kein geradliniger Prozess, bei dem man einfach Mitgefühl aktiviert und sich sofort besser fühlt“, erläutert Gilbert. 

Tatsächlich müssen Betroffene oft zunächst Gefühle zulassen, die sie lange weggeschoben haben. „In den frühen Phasen der Mitgefühls-Arbeit tauchen manchmal Dinge auf, die abgespalten oder blockiert waren“

Das kann Überwältigung auslösen. Viele Trauma-Überlebende fürchten paradoxerweise genau das, was sie am meisten bräuchten: die Wärme des Mitgefühls. „So ist es wahr, dass ausgerechnet die Menschen, die den heilenden Mitgefühlsprozess am nötigsten hätten, sich am meisten davor fürchten und ihn erst einmal abblocken“, sagt Gilbert (2019). Dies zu berücksichtigen, ist sehr wichtig für den Prozess der Annäherung, ein bedachtes und achtsames Vorgehen und viel Sicherheit sind entscheidend. 

„Hier hilft uns auch die Arbeit mit Kintsugi und inneren Anteilen (Inner Family Systems), da sie uns einen gesunden, nicht pathologischen und achtsamkeitsbasierten Zugang zu verdrängten Anteilen ermöglicht.“ betont Motoki Tonn. 

In der Praxis haben sich daher kleinschrittige, erfahrungsorientierte Interventionen bewährt, die behutsam an Scham-Themen heranführen. Hier einige Ansätze, die wir in Gruppen oder Coachings nutzen können:

  1. Scham teilen, Scham normalisieren: Scham verliert einen Teil ihrer Macht, wenn wir sie ans Licht bringen. In geschützten Gruppen kann es äußerst heilsam sein, Schamerlebnisse auszutauschen – sei es durch Erzählen oder kreative Mittel wie Schreiben oder Malen. Allein zu hören, dass andere ähnliche Gefühle kennen, erzeugt Common Humanity, das Gefühl von gemeinsamer Menschlichkeit. Wir merken: Wir sind nicht allein damit. Wichtig ist, dass die Gruppenleitung für eine absolut wertschätzende Atmosphäre sorgt, damit keine neue Beschämung entsteht.

  2. Psychoedukation und Bewusstwerden:
    Uns hilft es, auf kognitiver Ebene zu verstehen, was Scham ist und wie sie wirkt. Erklärungen über die evolutive Funktion von Scham, über das Zusammenspiel von Gehirnarealen oder das typische Vermeidungsverhalten können Aha-Effekte auslösen. Gilbert berichtet, dass seine Patienten es sehr hilfreich fanden zu begreifen, „dass alle Menschen das Bedürfnis haben, geliebt und akzeptiert zu werden, und dass das Gehirn bei Ablehnung Alarm schlägt – was völlig normal ist“

“Eben dieses Wissen und der Aspekt der Mitmenschlichkeit (wir alle kennen Scham) entlastet uns” – so Motoki Tonn. Es zeigt uns:

Mit mir ist nichts Ungewöhnliches, mein Gehirn reagiert auf soziale Ausgrenzung mit Schmerz, weil es überlebenswichtig war. 

Solche Erkenntnisse legen den Grundstein, um Scham nicht mehr als Beweis der eigenen Wertlosigkeit, sondern als psychische Reaktion zu sehen.

  1. Achtsamkeits- und Atemübungen
    Methoden aus Achtsamkeit und Meditation sind wirksame Werkzeuge, um die zuvor beschriebenen Schritte Notice und Silence einzuüben. In Gruppen kann z.B. eine geführte Meditation oder achtsamkeitsbasierte Teilearbeit (Internal Family Systems) angeboten werden, die die Teilnehmenden Zugang zu beschämenden Erinnerungen ermöglicht.
    Auch einfache Atemtechniken wie die Resonanzatmung und Mitgefühl-Interventionen (Compassion-based) helfen, das autonome Nervensystem zu regulieren und ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Auch die Arbeit mit dem inneren Selbst, mit dem inneren Kind und anderen Metaphern ermöglicht vielen Menschen einen heilsamen Zugang zu verschlossenen Beschämungen.

  2. Arbeit mit dem inneren Kritiker: Eine wirkungsvolle Intervention ist es, den Dialog zwischen dem schamgetriebenen inneren Kritiker und einem neu zu entwickelnden mitfühlenden Anteil zu fördern. Das kann z.B. mit der Zweistuhl-Technik erfolgen: Auf einem Stuhl nimmt die Person die Perspektive ihres strengen inneren Kritikers ein und formuliert die typischen Anschuldigungen („Du Versager...“); auf dem anderen Stuhl antwortet sie sich selbst aus der Haltung eines verständnisvollen, wohlwollenden Gegenübers. Anfangs fällt das vielen sehr schwer – der mitfühlende Stuhl bleibt oft leer oder stumm. Hier kann die Leitung unterstützend einspringen, indem sie stellvertretend die Stimme des Selbstmitgefühls anbietet und der Person Worte des Verständnisses zuspricht. Mit der Zeit lernen die Teilnehmenden, diese Stimme in sich selbst zu finden.

    Sehr beliebt in unseren Retreats und Seminaren ist auch der Brief an uns selbst mit der Stimme eines wohlwollenden Mentors oder Freundes: Was würde diese Person zu den eigenen Herausforderungen und Möglichkeiten schreiben – diese Person kennt alle Aspekte unseres Lebens, versteht uns, sieht uns und schreibt uns jetzt mit zugewandter, empathischer Stimme. Dieses schriftliche Gegenüberstellen von harter Selbstkritik und mitfühlender Sichtweise kann tief berühren und zu neuen inneren Überzeugungen führen.

  3. Imagination und innere Anteile integrieren: Aufbauend auf dem Kintsugi-Bild arbeiten wir mit imaginierten Szenen, wie den sicheren Ort, fürsorgliche oder beschützende Personen (nach Dr. Laurel Parnell und Prof. Luise Reddemann).

    Diese liefern eine sichere Grundlage, auf der Klient:innen ihre „beschämten Anteile“ kennenlernen und sich ihnen zuwenden können (IFS-Arbeit).  Die Ergründung als komplementärer Prozess, der aufzeigt, was diese – häufig sehr jungen – Anteile benötigen, hilft vielen, einen neuen Blick auf die eigenen Beschämungen zu finden.

    Dies ermöglicht eine imaginäre Intervention: Wir können diesen Anteilen genau das geben, was sie brauchen: Wärme, Schutz, Zuspruch, einfach Dasein.

Solche Mitgefühl-basierten Imaginationen ermöglichen uns, neue emotionale Erfahrungen zu machen, die die alten Schamnetzwerke im Gehirn überlagern. Eine Teilnehmerin berichtete:

„Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas wie Selbstmitgefühl fühlen kann. Es war ein wunderschönes, beruhigendes Gefühl, zu wissen, dass es OK ist, so zu mir selbst zu sein, ohne mich schuldig oder schlecht zu fühlen“.

Sie schilderte, sie könne nun, wenn sie Angst oder Verwirrung spüre, auf diese neue Kraft zurückgreifen und sich selbst beruhigen – „zu mir sagen: ‚Es ist okay, so zu fühlen.‘“

Schließlich schrieb sie: „Mitfühlend mit mir selbst zu sein, bedeutet, dass ich viel mehr Frieden mit mir empfinde“ . Solche persönlichen Erfahrungsberichte zeigen die Tiefe und “Schönheit” der Mitgefühlsinterventionen.

  1. Aufbau von gesundem Stolz und Ressourcenorientierung: Parallel zur Mitgefühlsarbeit lohnt es sich, ganz konkret Ressourcen und Erfolge der Person herauszuarbeiten, um dem zuvor dominierenden negativen Selbstbild etwas entgegenzusetzen. In Gruppen kann man z.B. eine Runde machen, in der jede/r etwas nennt, worauf er/sie stolz ist – und sei es noch so klein.

    Anfangs kommt da oft kaum etwas, weil innere und durch frühere – manchmal sogar vergessene Schamerlebnisse – Blockaden  die Sicht verstellen. Es ist dann wichtig, an solchen Kognitionen zu arbeiten und sie zu transformieren – von „Ich habe kein Recht, stolz sein“ zu “Ich darf stolz sein, ich empfinde Stolz über …”. Die Haltung, dass dies auch vermeintlich ganz kleine Dinge (im Sinne von Ikigai) sein können, hilft uns dabei,.

    Mit Mut der Kraft der Dyadenarbeit, die wir bei Finde Zukunft regelmäßig anbieten, kann nach und nach eine Liste und damit auch eine Ressource entstehen: Eigenschaften, Fähigkeiten, gemeisterte Situationen, auf die man zurecht stolz sein darf. Hierbei ist wichtig, den Unterschied zwischen authentischem Stolz und Hybris bewusst zu machen: Es geht nicht ums Angeben, sondern um Würdigung des eigenen Weges. Besonders bei Menschen, die sich lange als „wertlos“ empfunden haben, ist dieser Schritt zutiefst emotional. Manchmal hilft es, andere aus der Gruppe sagen zu lassen, was sie an uns schätzen – eine ehrliche und konstrukive Fremdwahrnehmung kann Brücken bauen, wo unsere Selbstwahrnehmung (inklusive der Tendenz zur Negativität) verzerrt ist.

  2. Kontinuität und Nachsorge
    Schließlich sollte jede schambezogene Intervention immer begleitet sein von einer längerfristigen Perspektive: Wie kann das Gelernte im Alltag verankert werden? Hier kommen wieder die Intention und kleine tägliche Übungen von uns ins Spiel: Achtsamkeitsbasierte Übungen, Integrationen aus AF-EMDR (Schmetterlingsumarmung), Journaling (Dankbarkeit, Selbstwirksamkeit aber auch Herausforderungen können dabei sein), Tonglen- und Metta-Übungen (aus unserer “Moderne Resilienz” Arbeit) und Austausch mit einem sogenannten “Buddy”.

Die wissenschaftlichen Ergebnisse stimmen uns zuversichtlich, dass solche Ansätze wirken. Gilbert und Procter (2006) berichteten über ihr Compassionate-Mind-Training bei hoch schambesetzten Patient:innen: Nach der mehrwöchigen Gruppenintervention ging es vielen deutlich besser – einige konnten langfristig die Klinik verlassen, fanden wieder Arbeit oder meisterten schwierige Lebensumstände mit neu gewonnenem inneren Halt

Diese Erfahrungen zeigen: Scham ist transformierbar. Mit Geduld, Mitgefühl und den richtigen Methoden können wir aus dem Gefängnis der Selbstabwertung ausbrechen.

Am Ende dieses Weges steht nicht „Perfektion“ – es steht Menschlichkeit. In der Haltung von Wabi-Sabi (japanisch: 侘寂, im weiteren Sinne: „die Schönheit im Unperfekten, Unvollständigen und Vergänglichen“) erkennen wir: Es ist gerade das Unvollkommene, das Vergängliche und das Versehrte, das Tiefe und Schönheit in unser Leben bringt.

Die inneren Narben verwandeln sich und werden im besten Fall ein neuer, geheilter Teil von uns. Sie definieren uns nicht länger negativ, sondern erzählen die Geschichte davon, wie wir zerbrochen und doch neu zusammengesetzt wurden – mit Gold durchzogen, einzigartig und würdevoll. So wie beim Kintsugi die Brüche sichtbar bleiben, dürfen auch unsere eigenen Risse leuchten: als Spuren eines Weges, den wir gegangen sind – nicht trotz, sondern mit allem, was uns geprägt hat.

Wir alle haben die Fähigkeit, unsere inneren Narben zu wandeln. Indem wir uns selbst und einander mit Güte begegnen, wird aus Scham Zugehörigkeit, aus Schmerz Wachstum – und aus Narben ein stilles, leuchtendes Muster unserer individuellen Lebenskunst.

Selbst wenn wir noch auf dem Weg sind, dürfen wir heute schon stolz darauf sein, diesen mutigen Pfad beschritten zu haben – Schritt für Schritt, Riss für Riss, Goldader für Goldader. In der Sprache von Wabi-Sabi: schön, weil echt. Berührend, weil unvollkommen. Wertvoll, weil vergänglich

Literatur und Quellen

  • Bradshaw, John: "Healing the Shame that Binds You", Health Communications Inc., 1988.

  • Gilbert, Paul: "The Compassionate Mind", Constable & Robinson, 2009.

  • Gilbert, Paul & Procter, Sarah: Compassionate Mind Training for People with High Shame and Self-Criticism: Overview and Pilot Study, 2006.

  • Gilbert, Paul: "Shame and Compassion". Interview in: Psychology Today (online), 2019.

  • Kaufman, Gershen: "The Psychology of Shame: Theory and Treatment of Shame-Based Syndromes", Springer Publishing.

  • Marks, Stephan: "Scham. Die tabuisierte Emotion", Patmos Verlag, 2007.

  • Neff, Kristin: "Selbstmitgefühl: Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden", Kailash Verlag, 2011.

  • Tangney, June & Dearing, Rhonda: "Shame and Guilt", Guilford Press, 2003.

  • Tracy, Jessica L. & Robins, Richard W.: The psychological structure of pride: A tale of two facets. Journal of Personality and Social Psychology, 2007.

  • Feiring, Candice et al.: Shame and attributional style in sexually abused youth. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 2002.

  • Cheung, Sau Fong; Gilbert, Paul; Irons, Chris: An exploration of shame, self-criticism and compassion in therapy. Psychology and Psychotherapy, 2004.

  • Stuewig, Jeffrey & McCloskey, Laura A.: The relation of child maltreatment to shame and guilt among adolescents: Psychological assessment, 2005.

  • "Narrative Exposure Therapy Manual" (Schauer, Neuner, Elbert), 2005.

  • Finde Zukunft: "Narben aus Gold" Blogserie, 2024.

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Kintsugi – Die Kunst, Brüche zu vergolden