Das wahre Ikigai: Ein Gespräch mit Thomas Qiu Hönel
Spricht man im Westen von Ikigai, erscheint oft das farbige Venn-Diagramm: vier Kreise, in deren Mitte angeblich die „Bestimmung“ liegt. Doch in Japan meint Ikigai etwas anderes. Es fragt nicht in erster Linie nach dem, was wir tun, sondern nach dem, was wir sind.
Der japanische Neurowissenschaftler Ken Mogi beschreibt Ikigai als ein Spektrum – so komplex wie das Leben selbst. Die Psychiaterin Mieko Kamiya hat es in sieben Dimensionen gefasst, die unter anderem Lebenszufriedenheit, Resonanz, Freiheit und Selbstverwirklichung einschließen.
Ich selbst verstehe Ikigai als eine Haltung, die aus kleinen Momenten, gelebten Werten und einer tiefen Verbindung zum Leben erwächst.
Eine solche Verbindung können wir in der Resonanz mit anderen erleben – so geht es mir, wenn ich mit Thomas Qiu Hönel über sein Ikigai, seine Kunst und seine Arbeit spreche.
„Ich darf genießen“
Thomas Qiu Hönel hat sich in den letzten Jahren intensiv mit Ikigai beschäftigt – nicht als abstrakte Theorie, sondern als persönliche Praxis. Im Gespräch beschreibt er, wie sich sein Blick auf das Leben verändert hat:
„Ich habe ein viel größeres Bewusstsein für Werte in meinem Leben. Nicht nur für die, die ich vertrete, sondern auch für die, die mein Leben tragen. Dazu kommt mehr Erlaubnis für etwas, das früher fast wie ein Luxus klang: Ich darf genießen. Und eine größere Dankbarkeit – für die kleinen und die großen Dinge.“
Diese Verschiebung ist leise, aber tiefgreifend. Sie verändert, wie Entscheidungen getroffen werden, wie man mit Herausforderungen umgeht, und wie sich die eigenen Prioritäten ordnen. Genuss ist dabei nicht oberflächlich gemeint, sondern als ein bewusstes Wahrnehmen von Augenblicken, die früher vielleicht übersehen worden wären: ein Gespräch am Morgen, der Blick auf eine Landschaft, ein Satz, der in Erinnerung bleibt.
Ikigai- und Meditations-Retreat
04. – 06.09.2025
Eine besondere Gelegenheit, Ikigai praktisch zu erleben: drei Tage inmitten natürlicher Umgebung, um zur Ruhe zu kommen, neue Klarheit zu finden und deine innere Mitte zu berühren.
Mehr Infos und Anmeldung.
Mehr über Thomas und seine Arbeit findest du auf seiner Webseite: thomashoenel.de
Ein Gespräch zwischen Motoki Tonn und Thomas Qiu Hönel
Was ist Ikigai für dich?
„Wenn ich mich still in eine Ecke setzen kann, um ein Buch zu lesen. Wenn ich in meinem Atelier etwas schreiben oder malen kann – einfach so, aus kindlicher Freude am Kreieren und Schöpfen. Wenn ich in Balance bin.“
Wie lebst du Ikigai?
„Indem ich die Dinge so tue, dass es ein Fließen in und aus mir ist. Indem ich auch Dinge erschaffe, die keinen ökonomischen Kontext haben. Indem ich mich dabei beobachte, ob das, was und wie ich es tue, meinen Werten entspricht – und das täglich gegenchecke oder mir dazu Feedback einhole. Andere Menschen spüren sehr wohl, ob du gerade in deiner Ikigai-Wesensnatur bist.“
Ein Sprichwort sagt: „Das Leben ist eine ganze Menge Sch** – und darin gibt es einige Spuren von Glück.“ – Wie siehst du das?**
„Um welche Art „Glück“ geht es in der Aussage? Geht es um – wie ich es nenne – „Rockstar-Glück“ oder um „Geile-Karre-Glück“? Für mich ist es ein Spruch aus der zynisch-sarkastischen Lebensentwerter-Spruchkiste. Hat etwas von: „Ich hatte doch Glück bestellt, und jetzt wird nicht geliefert!“ Was nicht ausschließt, dass ich den Spruch vielleicht nicht irgendwann in ähnlicher Form auch selbst gebracht habe – und sei es im inneren Dialog meiner Anteile.
Schmerz und Leid machen keinen Bogen um mich. Ikigai intensiv zu leben, bedingt, mich der Sch*** zu stellen. Es ist das Leben, das mir die Fragen stellt und die Aufgaben gibt. Dahinter kommen Schmerz, Mühsal, Angst, Unsicherheit, Hilflosigkeit. Dies zu durchschreiten, anzunehmen, zu umarmen und zu sagen: „Das ist mein Leben, das ist Teil meines Lebens“, befähigt mich dazu, dass ich staunen kann. Dass ich einen Tag erspüren kann – mit allem, was sich in ihm verbirgt: Schönheit und Glanz, Wut und Trauer, Hässliches und Erhabenes, Abstoßendes und Begehrenswertes, Hartes und Weiches, Stilles und Lautes, Hitze und Kälte. Das ganze Leben – und das Ganze leben.
Jeden Tag aufs Neue mich geben, erspüren, erfahren. Jeden Tag aufs Neue gehen, als ob ich ein Kind bin, das Laufen lernt. Jeden Tag zu einem Tag mit dem vollen Leben machen.“
Kannst du – trotz oder wegen der schlimmen Dinge in der Welt – glücklich sein?
„Manchmal habe ich Angst. Manchmal kommen mir die Tränen, und ich weiß nicht, was ich machen soll, wie ich helfen kann. Jedoch stärkt mich mein Auftrag: In der Zeit, die mir auf diesem Planeten bleibt, in diesem Körper, mich zu geben und das zu tun, was ich tun kann. Nicht zu vergessen, woher ich komme und welche Lektionen ich lernen durfte.
Eine davon ist, dass Diktaturen implodieren, dass Machthaber und ihre Schergen von einem Tag auf den anderen ihre Bedeutung verlieren können. Dass alles kommt und wieder vergeht.
Was mir weiterhin sehr hilft, ist die Praxis der Dankbarkeit: in den Tag hineinzugehen, ihn Revue passieren zu lassen und für mich zu schauen – was ist heute Bemerkenswertes, Unverhofftes, Erstaunliches geschehen, was habe ich vielleicht übersehen, was hat mich demütig werden lassen?
Demut ist ein gutes und weites Übungsfeld: Demut vor dem Reichtum, in dem ich lebe. Demut vor täglichen Wundern,. Demut vor dem, was ich nicht weiß.“
Was ist dir wichtig?
„Mein Körper und meine Gesundheit. Meine innere Arbeit, die mich befähigt, in der Wahrheit zu leben. Meine spirituelle Praxis. Mich in Themen hineinbegeben zu können, mich hinzugeben und zu vertrauen.
Mich zu zeigen mit dem, was mich ausmacht und was mich als Mensch bewegt – mit meinen Schwächen, Fehlern, Ängsten, meiner Liebe, meiner Hingabe, meinem Mut, meiner Wahrhaftigkeit.“
Was hast du auf deiner Ikigai-Reise über dich und das Leben gelernt?
„Dass es die kleinen Dinge sind, die kleinen Schritte: stehen bleiben, lauschen, tiefes Einatmen am Morgen, den Kaffee so zubereiten, wie es für mich genau passend ist – egal, was andere darüber denken mögen.
Ich habe gelernt, dass mein Körper wie ein Tropfen Tau auf dem Gras am Morgen ist. Dass ich, wenn ich mich öffne und Ängste teile, viel mehr zurückbekomme, als ich je zu denken wagte. Dass es ein beständiges wogendes Auf und Ab gibt, und dass ich gut daran tue, zu lernen, wie ich auf diesen Wogen reiten kann.
Dass ich um Hilfe bitten darf und dass mich das enorm weiterbringt. Dass ich mich verletzlich zeigen darf und dass mich das stärkt.“
Wie gehst du mit Brüchen im Leben um?
„Keine einfache Reise – vor allem in den letzten Jahren nicht. Ich habe um Hilfe gebeten, mit meinen Brüchen in Frieden zu kommen, sie zu integrieren, das Gold auf den Bruchlinien zu sehen und mich darin zu entdecken und zu lieben.
So wurde die Arbeit mit Brüchen zu einem meiner Kernthemen, die ich lehre. Das Eindringen des Lichts durch einen Riss, einen Bruch, bringt uns zum Leuchten und Strahlen. Den Weg dürfen wir selbst gehen.
Die zaghaften Schritte, das Stolpern, das Verirren nimmt uns niemand ab. Jedoch gibt es Guides und unterstützende, helfende Personen, die diesen Weg bereits gegangen sind. Wir sind also nicht allein.“
Was bringt dein Ikigai – oder deine Seele – zum Klingen?
„Das Betrachten von Kunst. Stille Augenblicke. Bewegung, Tanz und Kampfkunst. Musik. Das Schöpfen von neuen Ansätzen. Dinge anders zu tun. Etwas zu versuchen, vor dem ich mich fürchtete. Etwas zu tun, was ich mir nicht zutraute oder mir selbst verwehrte.
Erfolge mit anderen zu feiern. Mich in Gruppen zeigen, meine Wahrheit teilen. Andere Menschen inspirieren und stärken, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich zu transformieren.“
Was darf man erwarten, wenn man zu einem Retreat zu dir kommt?
„Sich angenommen fühlen. Kontakt zur eigenen inneren Weisheit aufnehmen können.
Mit mir am Morgen in Stille sitzen.
Mit mir Ikigai erforschen.
Mit mir Kampfkunst-Übungen praktizieren.
Mit mir kalligrafieren.
Mit mir die Kraft einer Gruppe erfahren.“
Warum machst du solche Retreats?
„Weil ich meinen Weg gern mit Menschen teile.
Weil ich es liebe, in Gruppen zu arbeiten.
Weil ich von der Tiefe der Praxis überzeugt bin.
Weil ich von intensiven Lernzeiträumen überzeugt bin.
Weil ich die Intelligenz und Weisheit einer Gruppe bewundere und davon ungemein profitiere.
Weil ich es liebe zu sehen, wie der Lehrer überflügelt wird.“
Werte, Erlaubnis, Dankbarkeit
Für mich war das Gespräch mit Qiu eine Erinnerung daran, dass Ikigai nicht in einer einzigen Erkenntnis liegt, sondern in einer fortwährenden Haltung. Es ist das stille Prüfen: Bin ich gerade im Einklang mit meinen Werten? Erlaube ich mir, zu genießen? Bin ich dankbar für das, was jetzt da ist?
In Qiu`s Antworten steckt etwas, das mich persönlich berührt: die Bereitschaft, das Unfertige, das Bruchhafte nicht nur zu akzeptieren, sondern als Teil der eigenen Lebendigkeit zu sehen. Und ich mag seine Worte, die genau das reflektieren.
Danke, lieber Qiu, für die wertvollen Gespräche, die wir sicher weiter fortsetzen werden!