Scham
Die älteste soziale Emotion

Scham als selbstbezogene Emotion – Zwischen „Ich“ und „Mich“
Scham ist eine der großen selbstbezogenen Emotionen. Das bedeutet: Sie setzt die Fähigkeit voraus, über sich selbst nachzudenken. Nicht nur andere bewerten uns — wir beginnen, uns selbst mit diesen Augen zu sehen. Psychologisch gesehen erfordert das eine besondere Form von Bewusstsein. Kinder entwickeln diese Fähigkeit ab dem dritten bis vierten Lebensjahr. Sie beginnen zu verstehen, dass sie eine Persönlichkeit haben, die andere sehen, beurteilen und auf die sie reagieren.
Es entsteht die Unterscheidung zwischen dem „I“ (das erlebende Selbst im Moment) und dem „Me“ (das reflektierte Selbst, das betrachtet wird). Wenn wir Scham empfinden, passiert genau das: Wir betrachten uns selbst von außen — und finden uns ungenügend. Scham stellt dabei nicht nur fest: „Ich habe etwas falsch gemacht.“ Sie geht tiefer und sagt: „Ich bin falsch.“
Die Emotionsforscherin Dr. Jessica Tracy hat diese Dynamik in ihren Arbeiten beschrieben. Seit Anfang der 2000er Jahre ist sie eine der international führenden Forscherinnen zu selbstbezogenen Emotionen wie Stolz, Scham und Schuld. In ihren Studien hat sie gezeigt, dass Scham eine zutiefst soziale und existenzielle Funktion hat - sie reguliert Beziehungen, beeinflusst unser Selbstbild und entscheidet oft darüber, wie verbunden wir uns fühlen.
Sie unterscheidet selbstbezogene Emotionen wie:
Stolz, der entsteht, wenn wir uns als fähig und wertvoll erleben.
Schuld, die ein Unbehagen über eigenes Verhalten signalisiert.
Scham, die die eigene Identität infrage stellt – was wir später „toxische Scham” nennen werden.
Selbstbezogene Emotionen nach Dr. Jessica Tracy
Dr. Tracy weist darauf hin, dass diese selbstbezogenen Emotionen eine wichtige soziale Funktion erfüllen. Sie regulieren, wie wir uns in Gruppen verhalten, wie wir unsere Rolle reflektieren und wie wir Bindungen aufrechterhalten:
Emotion | Beschreibung | Funktion |
---|---|---|
Stolz | Gefühl von Kompetenz, Erfolg und Selbstwert | Stärkt das Selbstbild, motiviert zu Leistung und sozialem Engagement |
Schuld | Unbehagen über ein eigenes Verhalten, das gegen innere oder soziale Normen verstößt | Fördert Verantwortungsübernahme und Wiedergutmachung |
Scham | Tiefe Infragestellung des eigenen Selbst, nicht nur des Verhaltens | Schützt vor sozialem Ausschluss, reguliert Gruppenzugehörigkeit |
Doch während Stolz und Schuld oft an eine konkrete Handlung geknüpft sind („Ich habe etwas erreicht“ oder „Ich habe etwas falsch gemacht“), ist Scham umfassender und globaler. Sie trifft das Selbst im Kern. Und genau deshalb ist sie oft so schmerzhaft. Scham isoliert. Schuld will reparieren, Stolz will teilen — Scham hingegen schließt ab. Doch genau in dieser Bewegung liegt auch ihr transformatives Potenzial. Wenn wir Scham erkennen und benennen, sind wir ihr nicht mehr ausgeliefert. Wir beginnen, sie nicht mehr als festes Etikett zu begreifen — sondern als etwas, das sich wandeln kann. Indem wir Scham als Prozess verstehen, öffnen wir die Tür für Veränderung. Nicht indem wir sie verdrängen — sondern indem wir ihr Raum geben, sich in Verbindung und Selbstmitgefühl zu verwandeln.
„Scham ist ein Verb – nicht ein Zustand.“
– Dr. Jessica Tracy
Die Typen der Scham — nicht jede Scham ist toxisch
Scham übernimmt evolutionär eine regulierende Funktion. Doch sie ist nicht immer destruktiv. Es gibt differenzierte Typen von Scham (Marks 2016):
Anpassungsscham: Reguliert Verhalten, sorgt für Zugehörigkeit.
Gruppenscham (Fremdschämen): Distanziert von abweichendem Verhalten anderer.
Empathische Scham: Verbundenheit durch Mitgefühl.
Intimitätsscham: Bewahrt gesunde Grenzen und Privatsphäre.
Traumatische Scham: Zerstört Selbstwert, lähmt und entkoppelt das Ich.
Vor allem die traumatische Scham, die in Bindungstraumata oder Missbrauchssituationen entsteht, gilt als besonders tiefgreifend und destruktiv. Sie unterscheidet sich von alltäglicher oder situativer Scham dadurch, dass sie nicht an ein einzelnes Verhalten oder einen isolierten Moment geknüpft ist, sondern sich auf das Selbst als Ganzes richtet. Menschen, die diese Form der Scham erleben, entwickeln häufig die Überzeugung, als Person grundsätzlich falsch, wertlos oder defekt zu sein.
„Toxische Scham, die Scham, die uns bindet, wird als das allgegenwärtige Gefühl erlebt, dass ich als Mensch fehlerhaft und unzulänglich bin. Toxische Scham ist nicht mehr eine Emotion, die uns unsere Grenzen aufzeigt, sondern ein Seinszustand, eine Kernidentität. Toxische Scham gibt uns ein Gefühl der Wertlosigkeit, ein Gefühl des Versagens und der Unzulänglichkeit als Mensch. Toxische Scham ist ein Bruch zwischen dem Selbst und dem Anderen.” – John Bradshaw, Healing the Shame that Binds You
Traumatische Scham wirkt auf mehreren Ebenen. Sie unterbricht die natürliche Fähigkeit, in Beziehung zu gehen, und erschwert es Betroffenen, Nähe, Vertrauen und Selbstakzeptanz zuzulassen. Gleichzeitig wird sie oft durch rigide innere Kritiker aufrechterhalten, die in Momenten von Verletzlichkeit oder Nähe aktiviert werden. Diese Mechanismen schützen kurzfristig vor erneutem Schmerz, verhindern langfristig jedoch Heilung und Integration.
Die fünf Scham-Typen
Diese Skala zeigt die fünf Scham-Typen nach Marks – von Anpassungsscham bis hin zur traumatischen Scham:
Schamtyp | Funktion | Wirkung |
---|---|---|
Anpassungsscham | Reguliert Verhalten und sichert Zugehörigkeit zur Gruppe | Sozial verbindend |
Gruppenscham (Fremdschämen) | Distanzierung von normabweichendem Verhalten anderer | Normbewahrend |
Empathische Scham | Mitfühlen mit dem Schmerz oder der Bloßstellung anderer | Verbindend, empathiefördernd |
Intimitätsscham | Schützt Privatsphäre, Intimität und körperliche sowie emotionale Integrität | Gesunde Grenzen |
Traumatische Scham | Resultiert aus tiefer, oft wiederholter Verletzung und Identitätsangriffen | Hochtoxisch, isolierend |

Wie sich Scham verstärkt
Scham ist selten eine einmalige Episode. Viel häufiger verläuft sie zyklisch. Sie wird ausgelöst — und bleibt haften. Schlimmer noch: Oft verstärken wir sie selbst, indem wir uns für die Scham schämen. Psychologisch gesehen spricht man dann von Scham zweiter Ordnung. Wir erleben nicht nur die primäre Emotion — sondern beginnen, uns für diese Emotion selbst abzuwerten.
Dieser Mechanismus wurde besonders eindrucksvoll von Dr. Jessica Tracy beschrieben. Ihre Forschung belegt, dass Scham eine emotionale Eskalationsspirale auslösen kann. Statt zur Lösung beizutragen, führt sie dazu, dass wir uns in der eigenen Ablehnung immer weiter verlieren. Die Forschung zeigt deutlich: Chronische oder tief verankerte Scham ist häufig mit traumatischen oder verletzenden Erfahrungen verbunden. Erfahrungen von Ausgrenzung, Bloßstellung, Gewalt oder emotionaler Kälte hinterlassen Spuren. Diese Spuren wirken wie emotionale Trigger, die selbst nach Jahren noch aktiv werden können — oft in scheinbar banalen Situationen.
„Selbstvorwürfe und Scham sind bei Traumafolgestörungen das Hauptproblem, nicht das Ereignis an für sich, sondern die Beziehung zu sich selbst.“
– Bessel van de Kolk
Neurobiologie der Scham — das Dilemma im Nervensystem
Scham ist kein bloß psychologisches Phänomen. Sie ist eine zutiefst neurobiologische Erfahrung, die uns in einen paradoxen Zustand versetzt. In Momenten intensiver Scham geraten zwei Systeme unseres autonomen Nervensystems in Bewegung — gleichzeitig und widersprüchlich:
Sympathikus: Bereitet uns vor auf Angriff oder Flucht.
Parasympathikus: Zieht uns zurück in Erstarrung, Kollaps oder Totstellreflex.
Diese Gleichzeitigkeit ist einzigartig und quälend. In der Scham erleben wir oft extreme Passivität („Ich bin nichts. Ich möchte unsichtbar werden.“) und zugleich potenzielle Explosivität (Wut, Trotz, Übergriff).
Beispiel: Die Gewalt aus der Ohnmacht
Ein Schüler spielt Fußball, macht einen Fehler und wird ausgelacht. Er schämt sich. Sein System gerät in Alarmzustand. Doch statt in der Ohnmacht zu verharren, explodiert er: Er tritt brutal zu. „Lieber aggressiv als ohnmächtig schämend.“
Dieser Mechanismus beschreibt, wie aus Scham Gewalt und Dominanzstrategien entstehen können — nicht aus „Bösartigkeit“, sondern als Flucht aus der Unerträglichkeit. Doch Scham betrifft nicht nur Kinder oder Jugendliche. Auch Erwachsene — unabhängig von Alter oder Status — erleben diese Mechanismen. Fachhochschul-Professoren, die sich bloßgestellt fühlen, kaschieren dies mit Arroganz oder unnötig komplexer Sprache. Geistliche, die Unsicherheit erleben, kompensieren diese mit strenger, oft kalter Autorität. Führungskräfte, die sich nicht mehr kompetent fühlen, entwickeln übermäßigen Perfektionismus oder werden herablassend. Scham tarnt sich in vielen Gewändern: Arroganz, Härte, Kälte, Spott oder Zynismus — sie alle können getarnte Abwehrreaktionen sein.
„Scham wird häufig abgewehrt — durch Gewalt, Groll, Größenfantasien oder emotionale Erstarrung.“
– Dr. Stephan Marks
Beispiel USA: Verdeckte Beschämung und aggressive Ideologie
Besonders eindrucksvoll wurde dieser Mechanismus in einem psychologischen Experiment belegt:
Junge Männer in den USA wurden in zwei Gruppen eingeteilt. Gruppe 1 wurde neutral befragt. Gruppe 2 wurde vorher — ohne es direkt zu merken — versteckt beschämt. Ihnen wurde subtil vermittelt, sie seien zu wenig männlich („Du wirkst weiblich, bist kein echter Mann“).
Das Ergebnis: Die beschämten Männer sprachen sich deutlich häufiger für den Krieg aus. Sie bevorzugten größere, aggressive Autos mit lauten Auspuffen — ein Symbol für Dominanz. Scham führte hier zu einer kompensatorischen Hinwendung zu Macht, Krieg und Überlegenheit. Die psychologische Logik dahinter: „Wenn ich mich klein fühle, werde ich groß. Wenn ich mich ohnmächtig fühle, werde ich mächtig.“ Diese Dynamik zeigt, wie gefährlich unerkannte und unbearbeitete Scham auf gesellschaftlicher Ebene werden kann.
Scale of Shame (Skala der Schamintensität)
Diese Skala zeigt die Intensitätsabstufungen der Scham – von leichter Irritation bis hin zur tiefen existenziellen Scham:
Intensität | Beschreibung | Typisches Erleben |
---|---|---|
Leicht | Verlegenheit, Unsicherheit | „Das war mir kurz peinlich.“ |
Moderat | Bloßstellung, Rückzug | „Ich will mich verstecken.“ |
Hoch | Selbstabwertung, Isolation | „Ich bin nicht gut genug.“ |
Sehr hoch | Selbsthass, tiefe Kränkung | „Mit mir stimmt grundsätzlich etwas nicht.“ |
Extrem / toxisch | Gefühl der Wertlosigkeit, existenzielle Scham | „Ich sollte nicht existieren.“ |
Scham- und Trauma-Schleifen: Wie aus Verletzung Verstrickung wird
Besonders perfide wirkt Scham, wenn sie sich mit Coping-Strategien verbindet, die kurzfristig Erleichterung, langfristig aber neue Verletzungen bringen. Hier sind einige typische Beispiele solcher Scham-Schleifen:
Beispiel 1:
Ich werde beim Sport gehänselt.
→ Ich spüre intensive Scham.
→ Um mich zu trösten, esse ich übermäßig.
→ Meine Figur verändert sich, ich werde erneut gehänselt.
→ Die Scham verstärkt sich.
Beispiel 2:
Ich werde wegen meines Aussehens ausgegrenzt.
→ Ich beginne, mich über Leistung und Perfektion zu definieren.
→ Jeder Fehler wird zur existenziellen Bedrohung.
→ Selbst kleine Schwächen lösen massive Scham aus.
Beispiel 3:
Ich fühle mich beschämt, keine Partnerin zu haben.
→ Ich kompensiere mit Pornographie und Rückzug – mit der Folge, immer weniger beziehungsfähig zu werden.
→ Meine Isolation verstärkt sich.
→ Ich schäme mich für meine Abhängigkei (2. Ebene der Scham).
Beispiel 4:
Ich werde süchtig (zum Beispiel nach Alkohol), um Scham zu betäuben.
→ Die Sucht wird sichtbar.
→ Ich schäme mich nun für die Sucht selbst.
→ Der innere Kritiker wird noch lauter.
„Scham kann zur sich selbst aufrechterhaltenden Spirale werden, weil wir beginnen, uns für unsere Scham selbst zu verachten.“
– Dr. Jessica Tracy
Scham zweiter Ordnung
Scham zweiter Ordnung entsteht, wenn wir uns sogar dafür schämen, dass wir Scham empfinden. Diese Spiralen sind bindend und zerstörerisch. Bessel van der Kolk stellt fest, dass Selbstvorwürfe und Scham bei Traumafolgestörungen das Hauptproblem sind — also nicht etwa das Ereignis an sich, sondern die Beziehung zu sich selbst. Auch Dr. Jessica Tracy beschreibt diese Dynamik als besonders zerstörerisch. Scham, so zeigt sie in ihren Studien, wird häufig nicht durch das ursprüngliche Ereignis aufrechterhalten, sondern durch die Bewertung der eigenen Unzulänglichkeit.
Menschen neigen dazu, ihre Sucht, ihre Isolation oder ihre Überkompensation wiederum als Beweis für ihr „Versagen“ zu interpretieren. So entsteht ein sich selbst verstärkendes System aus Scham, Vermeidung und weiterer Selbstabwertung. John Bradshaw stellt fest, dass unsere toxische Scham ohne Genesung sogar über Generationen weitergegeben werden kann. Wie können wir also diesen Kreislauf durchbrechen und Versöhnung finden?
50 Schattierungen von Scham
Scham kann sich auf drei Ebenen äußern: im Rückzug, in kompensierenden Verhaltensweisen und in tiefer innerer Toxizität.
Sie veranschaulicht, wie verdeckte Scham das Erleben und Verhalten beeinflusst – oft subtil, aber mit starkem Einfluss auf Selbstwert und Beziehung:
Aufgeben (Ziehen und Rückzug) | Handlung (Kompensation und Abwehr) | Toxizität (Lähmung und Selbstverachtung) |
---|---|---|
Verlegen | Überangepasst | Selbsthass |
Gehemmt | Perfektionistisch | Selbstverachtung |
Verschlossen | Sarkastisch | Wertlosigkeit |
Unsicher | Besserwisserisch | Selbstabwertung |
Klein | Überheblich | Selbstekel |
Zurückhaltend | Belehrend | Innere Leere |
Nervös | Anklagend | Selbstbestrafung |
Schweigsam | Abweisend | Hoffnungslosigkeit |
Übersehen | Passiv-aggressiv | Verzweiflung |
Schüchtern | Ironisch | Isolation |
Zögerlich | Überverantwortlich | Rückzug |
Innerlich gekränkt | Provozierend | Abgestumpftheit |
Peinlich berührt | Überspielend | Dauerhafte Beschämung |
Unsichtbar fühlen | Kontrollierend | Innerlich zerbrochen |
Gehemmt im Ausdruck | Schuldumkehrend (anderen Schuld geben) | Selbstentfremdung |
Zweifelnd | Zynisch | Dauerhaftes Gefühl von "nicht genügen" |
Selbstkritisch | Konkurrenzbetont | Selbstverachtung |
Übervorsichtig | Abwertend gegenüber anderen | Gefühl des Ausgeschlossenseins |
Leise | Arrogant wirken | Selbstverurteilung |
Eingeschüchtert | Angebend | Gefühl von innerem Zerfall |
Scham — und was wirklich hilft
Scham neigt dazu, still zu wachsen. Sie gedeiht im Verborgenen, im Unausgesprochenen. Dort wirkt sie besonders destruktiv. Sie trennt uns von anderen, aber vor allem auch von uns selbst. Nicht selten wird sie zu einem Kreislauf. Wir schämen uns — und schämen uns darüber, dass wir uns schämen. Doch was hilft wirklich, diesen Kreis zu durchbrechen? Nicht Verdrängung. Nicht Ablenkung. Sondern ein bewusster, achtsamer Umgang mit dieser alten und mächtigen Emotion.
Der erste Schritt ist oft der schwerste: Scham sichtbar machen. Sie benennen. Erkennen, dass sie gerade wirkt. Das ist der Moment, in dem sie ihre größte Kraft verliert. Scham wächst im Verborgenen. Sichtbarkeit ist der erste Schritt zur Befreiung. Sichtbarkeit allein heilt jedoch nicht. Heilung geschieht dort, wo wir beginnen, anders mit uns zu sprechen. Statt uns selbst zu verurteilen, können wir uns mit einer Haltung der Offenheit und Freundlichkeit begegnen.
Die Rolle von Dankbarkeit – vom passiven Gefühl zur aktiven Ressource
Es wäre falsch, Dankbarkeit als reine Wohlfühltechnik zu betrachten. Dankbarkeit kann ein machtvolles Instrument sein, um uns aus der Passivität der Scham zu befreien. Im ersten Schritt ist sie ein Empfangsmodus. Sie würdigt, was da ist. Doch sie wird transformativ, wenn sie in eine Frage übergeht: „Was war mein Anteil daran?“
Diese Frage ist keine Anklage. Sie ist ein Tor zur Verantwortung. Dankbarkeit in Kombination mit Eigenverantwortung hilft, die Opferrolle zu verlassen. Wir erkennen an, was geschehen ist — und gleichzeitig, wie wir darauf reagieren. So wird aus der passiven Akzeptanz eine aktive Gestaltung. Dankbarkeit wirkt entwaffnend gegenüber der Scham. Sie lädt ein, nicht im Selbstvorwurf stecken zu bleiben, sondern auch die eigenen Stärken und die kleinen Schritte der Heilung zu würdigen.

Stolz – Die Narben nach außen drehen
Wenn Dankbarkeit uns zur Akzeptanz führt, dann führt gesunder Stolz einen Schritt weiter. Er gibt uns die Kraft, unsere Geschichte nicht mehr zu verstecken, sondern sichtbar werden zu lassen. Stolz dreht die Narben nach außen. Wie beim Kintsugi, wo Bruchstellen nicht kaschiert, sondern vergoldet werden, kann Stolz uns erlauben, zu sagen: „Ja, ich habe Fehler gemacht. Ja, ich habe Narben. Und ja, ich bin daran gewachsen.“ Dieser Stolz ist nicht überheblich. Er ist authentisch. Gesunder Stolz ist kein Hochmut. Er ist die Würdigung dessen, was wir durchlebt und bewältigt haben. Er erlaubt es uns, unsere Narben zu zeigen — nicht als Schwäche, sondern als Beweis unseres Menschseins.
Zwei Arten von Stolz
Dr. Jessica Tracy unterscheidet zwischen zwei Arten von Stolz, die unterschiedlicher nicht sein könnten:
Art des Stolzes | Beschreibung | Soziale Wirkung | Eigenanteil |
---|---|---|---|
Authentischer Stolz | Entsteht durch echte Leistung, persönliche Anstrengung und moralisches Handeln | Verbindend, fördert Respekt und Kooperation | „Ich habe etwas mit Einsatz und Integrität erreicht.“ |
Hybristischer Stolz | Basierend auf Überheblichkeit, Arroganz und dem Bedürfnis, sich über andere zu stellen | Trennend, führt zu Abgrenzung und Isolation | „Ich bin besser als andere – ich habe es verdient, über ihnen zu stehen.“ |
Vergebung — Der vielleicht tiefste Schritt
Scham isoliert. Sie macht uns glauben, wir seien allein mit unseren Fehlern, mit unserer Unzulänglichkeit. Doch dieser Glaube hält uns gefangen. Der nächste Schritt zur Wandlung der Scham ist deshalb nicht nur Selbstannahme — sondern Vergebung. Nicht die schnelle, leere Formel des „Schwamm drüber“. Sondern die leise, tiefgehende Bereitschaft, sich selbst nicht länger an die Anklagebank zu fesseln.
Der Südafrikanische Geistliche und Menschenrechtsaktivist Desmond Tutu sagt darüber: „Vergeben heißt nicht vergessen. Es bedeutet, sich daran zu erinnern, ohne festzuhalten.“ Selbstvergebung bedeutet, die eigene Menschlichkeit zu sehen. Sie heißt, sich der eigenen Widersprüchlichkeit zuzuwenden — nicht um sie schönzureden, sondern um sie als Teil der eigenen Geschichte anzuerkennen.
Niemand ist ohne Fehler. Niemand ist ohne Narben. Das anzunehmen, ist vielleicht der mutigste Akt von allen. Vergebung — so beschreibt es Tutu — öffnet die Tür zur Zukunft. Ohne sie bleiben wir im Zimmer der Vorwürfe eingeschlossen: „Unsere Menschlichkeit hängt davon ab, die Menschlichkeit in anderen — und in uns selbst — zu erkennen.“ In diesem Licht wird klar: Vergebung ist kein Akt der Schwäche. Es ist die radikalste Form von Selbstmitgefühl.
Von der Emotion zur Haltung
Dankbarkeit, gesunder Stolz und Vergebung sind keine punktuellen Techniken. Sie sind Haltungen, die wir im Alltag kultivieren können. Scham wird nie ganz verschwinden. Doch wir können lernen, ihr anders zu begegnen:
Nicht mit Härte, sondern mit Milde.
Nicht mit Vermeidung, sondern mit Kontakt.
Nicht mit Urteil, sondern mit Annahme.
Wer diesen Weg geht, verändert nicht nur die Beziehung zu sich selbst. Er wird auch für andere sicherer. Wer sich selbst hält, muss andere nicht mehr beschämen. Heilung geschieht nicht im Rückzug. Heilung geschieht dort, wo wir beginnen, uns selbst mit derselben Freundlichkeit zu begegnen, die wir anderen wünschen. Ein passendes Sprichwort dazu besagt: „Hurt people hurt people.“
Übungen für den Weg der Verwandlung
An dieser Stelle haben wir Übungen zusammengetragen, die dir beim Umgang mit dem Thema Scham als unterstützende Ressource zur Verfügung stehen und dir dabei helfen sollen, Scham konstruktiv zu begegnen. Nutze die Übungen ganz nach Belieben und in deinem eigenen Tempo. Beim Klick auf den jeweiligen Button erhältst du die Übbungen als PDF. Wir hoffen, dass dir dieser Artikel gefallen hat und wünschen dir viel Kraft auf deiner Reise von Scham hin zu gesundem Stolz.